Friedrich Nerly
Winzerzug auf dem Monte Circello
Öl auf Leinwand (doubliert). 127 x 171 cm.
Signiert und datiert unten rechts: F. Nerly 1832.
Während seiner Jahre in Rom von 1828 bis 1835 besuchte Nerly mehrfach das ca. 90 km südlich an der Küste gelegen Vorgebirge Capo Circeo, von wo aus er weitere Wanderungen nach Terracina unternahm. Diese Exkursionen sind durch Zeichnungen belegt, die u. a. die Küste mit ihren Wachttürmen und Grotten sowie die dortige Vegetation zeigen.
Ein 1833 datierter Brief Nerlys an Johann Christian Reinhart beschreibt einen solchen Aufenthalt in dem kleinen Fischerdorf San Felice, am Hang des Monte Circeo - im 18. und 19. Jahrhundert auch Monte Circello genannt - über der Meeresküste gelegen: „Soeben von einer wunderschönen Seereise zurückgekehrt, kann ich nicht umhin, einiges von den Reizen des Cap Felice Ihnen mitzuteilen (...). Wunderbar komme ich mir hier vor, gleich dem verirrten Odysseus. Am Tage sitze ich auf alten Trümmern, den Pinsel in der rechten Hand, die Odyssee in der Linken - vor mir das unendliche Meer, von vollen grünen Myrthen umduftet, in welchen viele Nachtigallen anmutig singen und trillern. So komme ich halb berauscht des Abends nach Hause (…).“ (F. Meyer, op. cit. S. 52)
Das vorliegende Gemälde Nerlys, 1832 datiert und einen Blick in südliche Richtung vom Monte Circeo vorstellend, kann als äußerst exaktes Landschaftsporträt bezeichnet werden. Am gegenüberliegenden Ufer der Küste erblickt man im Bildhintergrund die Stadt Terracina, neben der sich rechts an der Landspitze die charakteristische Felsenzinne, genannt Pisco Montano, erhebt. Der Pisco Montano wird linkerhand überragt von dem Monte Sant´Angelo, auf dessen Höhe der Tempel des Jupiter Anxur gelegen ist; seine flache, langgestreckte Architektur lässt sich im Bild angedeutet erkennen. Bei den Bergen, die sich wiederum links davon erstrecken, handelt es sich um die Monti Ausoni. Im Bildmittelgrund stehen an der Küste zwei Wachttürme, die im 15. Jahrhundert gegen die Übergriffe nordafrikanischer Piraten erbaut wurden. In der Ebene links der Küste erstrecken sich die Pontinischen Sümpfe.
Handelt es sich bei der Vedute im Bildhintergrund also um ein realistisches Landschaftsporträt, so weicht der Künstler bei der Wiedergabe der Figurenstaffage im Vordergrund vom Alltag des 19. Jahrhunderts ab. Das Bild trägt traditionell den Titel „Winzerzug auf den Monte Circello“, doch verdeutlicht beispielsweise ein Vergleich mit einer Radierung Ludwig Richters, die einen Blick auf dem Monte Circeo mit einigen Landleuten präsentiert, dass es sich keinesfalls um zeitgenössische Weinbauern handelt. Im Gegensatz zu diesen rustikalen Figuren sind Nerlys Männer und Frauen in leichte, antikische Gewänder gekleidet, sie tragen antike Sandalen, und ganz rechts erscheint eine Frau mit nacktem Oberkörper - kaum denkbar im täglichen Leben des Jahres 1832. Tatsächlich erinnern die Männer, Frauen und Kinder weniger an von der Arbeit heimkehrende Weinbauern als vielmehr an das Gefolge eines „Triumphs des Bacchus“ oder eines „Bacchanals“, zu dem die leichte Bekleidung der Feiernden, die Doppelflöten und das Tamburin mit Schellenkranz ebenso gehören wie die Körbe voller Trauben, die Früchte, Amphoren und schließlich auch die nackten Kinder. Auch bei der formalen Gestaltung der einzelnen Figuren ließ der Künstler sich von Darstellungen antiker Mythen inspirieren, so erinnern die Frau mit den erhobenen Armen und der sie umfassende Mann im mittleren Vordergrund an die fliehende, von Apoll umfasste Daphne.
Das Gemälde basiert auf einer wahrscheinlich ebenfalls 1832 ausgeführten Zeichnung, die die Landschaft ohne die Staffagefiguren präsentiert (W. Morath-Vogel, op. cit., Nr. 60). Bislang war ein undatiertes, um 1860 entstandenes Gemälde im Erfurter Angermuseum mit dem Bildmotiv bekannt (W. Morath-Vogel, op. cit., Nr. 22). Franz Meyer überliefert allerdings in seiner Biographie des Malers, dass Nerly nach seiner Rückkehr aus Süditalien in Rom die Studien aus Terracina zu „mehreren größeren und figurenreichen Bildern, ´Die Rückkehr von der Weinernte` verarbeitete, einem Vorwurf, an dem er später seine reifere Kunst noch einmal mit bestem Erfolge üben sollte." Und: „Schon in Rom hatte er einen ähnlichen Vorwurf ausgeführt, verfügte damals aber, wie er selbst in einem Briefe bemerkte, noch nicht über die künstlerische Reife, die ihm zur Behandlung des Stoffes nötig schien."
Um eines dieser „größeren und figurenreichen“ Bilder mit einem „ähnlichen Vorwurf“ muss es sich bei dem vorliegenden Gemälde handeln, das etwas kleiner als die Erfurter Leinwand, denselben Blick auf die Küste von Terracina mit denselben Staffagefiguren zeigt. Weiterhin erblickt man links einen Schäfer, rechts steht ein abgestorbener Baum in auffälligem Kontrast zu der Baumgruppe dahinter. Der größte Unterschied jedoch liegt in der Lichtgebung: Während die Landschaft des 1832 datierten Bildes vom Mittagslicht erhellt wird, liegt sie in der Erfurter Fassung in der Abenddämmerung. Die Intensität des Lichtes teilt sich dem Betrachter fast körperlich mit, dem es mühelos gelingt, sich den nach eigener Aussage von Vogelgesang und Myrthenduft „halb berauschten“ Künstler vorzustellen, der auf dem Monte Circeo in der flirrenden Hitze eines südlichen Sommertages Homer nachspürte. Gerade die mittägliche Sonne scheint der alten Kulturlandschaft die Kraft zu verleihen, die Antike wiederzubeleben. Dieser Vision wird die realistische Vedute im Hintergrund gegenübergestellt, die jeden Gedanken an ein fernes Arkadien verbietet, wie auch der Schäfer mit seinen Schafen auf das tägliche Leben des 19. Jahrhunderts verweist.
Alltag und Mythos, so die Grundaussage des Bildes, können auf dem Monte Circeo, nach alter Tradition für einen kurzen Moment koexistieren, festgehalten vom kunstvollen Pinsel des Malers. Das vorliegende Gemälde tritt solcherart dem Erfurter Bild gleichwertig zur Seite; es kann als wertvolle Bereicherung von Nerlys Oeuvre bezeichnet werden.
Wir danken Frau Dr. Claudia Nordhoff für diesen, hier leicht gekürzten, Katalogeintrag.
Provenienz
Deutsche Privatsammlung.
Literaturhinweise
Zitierte Literatur: F. Meyer: Friedrich von Nerly, 1908. - Ausstellungskatalog: Friedrich Nerly und die Künstler um Carl Friedrich von Rumohr, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig / Landesmuseum Mainz 1991. - W. Morath-Vogel (Hg.): Römische Tage - Venezianische Nächte. Friedrich Nerly zum 200. Geburtstag, 2007.