Giovanni Francesco Barbieri, genannt Il Guercino
Amnon verstößt Tamar
Öl auf Leinwand (doubliert). 109,8 x 154,4 cm.
Dieses Gemälde stellt Guercinos erste Fassung des Themas aus dem Jahr 1649 dar. Es zeigt die alttestamentarische Erzählung in einer halbfigurigen Komposition, die sich durch klassizistische Klarheit und narrative Dichte auszeichnet und beispielhaft ist für das Spätwerk des Bologneser Meisters.
Die Begebenheit wird im Buch Samuel (II, 13-14) des Alten Testaments geschildert. Amnon, der Erstgeborene Davids, begehrt seine Halbschwester Tamar. Um mit ihr allein zu sein, stellt sich Amnon krank und lässt nach Tamar schicken, damit sie ihn pflege. Als sie allein sind, vergewaltigt er sie, wirft ihr Blutschande vor und verstößt sie. Für diese Tat bleibt Amnon zunächst ungestraft, später jedoch lässt Absalom ihn bei einem Festmahl töten.
Guercino stellt den Moment dar, in dem Amnon Tamar verstößt. Amnon ist im Profil dargestellt, nur spärlich durch ein blaues Gewand verhüllt. Mit einer kraftvollen Geste des angewinkelten Armes schickt er Tamar fort. Der strenge Blick, die aufrechte Haltung, die geballten Fäuste zeigen seine kalte Entschlossenheit. Tamar, ebenfalls noch halb entkleidet, ist im Begriff, fortzugehen, wendet sich jedoch noch einmal zu Amnon und blickt ihn erschrocken an. Guercino konzentriert die Darstellung auf das Gegeneinander der beiden Figuren, nur das Bett hinter ihnen definiert den Bildraum. Die Dramatik des Geschehens wird durch die Klarheit der Komposition, aber auch durch die erhabenen klassischen Posen der Figuren gesteigert. Die Genese dieser Komposition zeigt der Vergleich des Gemäldes mit Guercinos Vorzeichnung aus dem Jahr 1649 (Abb. 1; National Gallery of Art, Washington, Inv.-Nr. 1989.14.1). Auf der Rötelzeichnung sind die Figuren vertauscht, vor allem aber ist das Geschehen szenischer aufgefasst, ihr fehlt zudem noch die formale Strenge und psychologische Dichte des Gemäldes.
„Amnon verstößt Tamar“ stellt ein Werk aus dem späten Schaffen Guercinos dar. Nach dem Tod Guido Renis im Jahr 1642 war er unangefochten der erste Maler Bolognas, er erhielt zahlreich Aufträge von italienischen Fürsten und vom Bologneser Adel. Dieses Spätwerk ist, wie Mahon dargelegt hat (Frankfurt 1991, op. cit., S. 246f), von einer „klassizistischen“ Bildauffassung sowie einem feinen pastellartigen Kolorit geprägt, das sich auch im vorliegenden Werk zeigt.
Aufgrund von Guercinos Werkbuch, dem Libro dei conti, wie auch den Ausführungen des Bologneser Kunsthistoriographen Carlo Cesare Malvasia in seiner „Felsina Pittrice“ lässt sich die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des vorliegenden Gemäldes genau rekonstruieren (Salerno 1988, op. cit., S. 332-333, Nr. 261-262, und S. 334, Nr. 263; Mahon in: Frankfurt 1991, op. cit., S. 300-301). Demnach malte Guercino im Jahr 1649 die zwei alttestamentarischen Szenen „Amnon verstößt Tamar“ sowie „Joseph und das Weib des Potiphar“ im Auftrag des Aurelio Zanoletti aus Reggio. Ein gewisser Girolamo Bavosi drängte Guercino jedoch, ihm Amnon verstößt Tamar“ zu verkaufen. Er erwarb das Gemälde tatsächlich, zusammen mit einer „Apoll und Daphne“, und verbrachte beide Werke nach Venedig. Das vorliegende Gemälde stellt diese erste Version dar, die Girolamo Bavois erhielt. (Vgl. Malvasia 1678, op. cit., S. 376: „Un Gioseffo fuggitivo dalla moglie di Putifar al Sig. Aurelio Zanoletti; & al medemoun quadro con Amnone, quando discaccia la violata Tamar. Questo quadro fù ceduto al Sig. Girolamo Bavosi, che l'inviò a Venetia con un altro di Apollo di Dafne.").
Guercino schuf eine zweite Version von „Amnon verstößt Tamar“, die gemeinsam mit „Joseph und das Weib des Potiphar“ auftragsgemäß an Aurelio Zanoletti geliefert wurde. Sie befanden sich lange Zeit in der Sammlung des Marquis of Londonderry und sind heute in der National Gallery of Art in Washington zu sehen (vgl. Abb. 2; National Gallery of Art, Washington, Inv.-Nr. 1986.17.2).
Abb. 1: Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino, Amnon verstößt Tamar, 1649, Rötel auf Papier, National Gallery of Art, Washington
Abb. 2: Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino, Josef und das Weib des Potiphar, 1649, National Gallery of Art, Washington
Provenienz
In Auftrag gegeben von Aurelio Zanoletti, Reggio, von Guercino jedoch am 28.1.1650 an Girolamo Bavoso (Bavosi) verkauft. - Wohl von Pierre Berton, französischer Agent in Rom, 1742 an William Fauquier verkauft. – Privatsammlung, Irland. – Auktion Christie's, London, 18.12.1980, Lot 14. – Wildenstein, New York. – Frederick W. Field, Greenacres, Beverly Hills. – Auktion Christie's, London, 5.7.1991, Lot 19. – Sarina Tang Fine Art Gallery, New York. – Auktion Christie´s, New York, 26.1.2012, Lot 257. – Europäische Privatsammlung.
Literaturhinweise
Giovanni Francesco Barbieri: il Guercino. Libro dei conti, MS, Biblioteca Communale dell'Archiginnasio di Bologna, inv. B 331, S. 37 recto, conto 419. – Carlo Cesare Malvasia: Felsina Pittrice. Vite de Pittori Bolognesi, Bologna 1678, Bd. II, S. 376. – J. A. Calvi: Notizie della vita e delle opere del Cavalier Giovan Francesco Barbieri detto il Guercino da Cento, Bologna 1808, S. 123. – Francis Russell: Dr Clephane, John Blackwood and Batoni's "Sacrifice of Iphigenia, in: The Burlington Magazine, CXXVII, 1985, S. 892, Anm. 24. – Luigi Salerno u. Denis Mahon: I Dipinti del Guercino, Rom 1988, S. 332-333, unter Nr. 261-262 und S. 334, Nr. 263. – Ausst.-Kat. Bologna/Frankfurt/Washington 1991: Giovanni Francesco Barbieri, il Guercino, 1591-1666, hrsg. v. Denis Mahon, Bologna 1991, S. 318-319. – David M. Stone: Guercino: Catalogo completo dei dipinti, Florenz 1991, S. 255-257, Nr. 247. – Barbara Ghelfi und Denis Mahon (Hg.): Il libro dei conti del Guercino, 1629-1666, Venice 1997, S. 145, Nr. 419. – Richard E. Spear (Hg.): Seeing Double. Two Versions of Guercino's 'Joseph and Potiphar's Wife', Gainesville 1999, Abb. 9.