Lot 223 Dα

Diese sonnige Szene mit ihrem Schattenspiel, den dunklen Baumstämmen, mit dem Verkehr zahlreicher schwarz-glänzender Droschken und einer Tram, ist ein weiteres Beispiel für die Leichtigkeit, mit der Lesser Ury ein wie beiläufiges, ja alltägliches Großstadtmotiv malerisch zu erfassen verstand. Die Pastellkreiden entwickeln einen sommerlichen Ton, in dem im Gelb der Tram die ganze Stimmung gebündelt ist und die bläulichen langen Vegetationsschatten die Wärme des strahlenden Tages wohltuend zu temperieren scheinen. In den 1920er Jahren hatte der Künstler nicht nur Paris, sondern auch London besucht und die eigentümliche, auch individuelle Atmosphäre dieser Metropolen, zu denen sich natürlich nochmals dann das heimatliche Berlin gesellte, mit allen Sinnen erlebt, künstlerisch empfunden und wiedergegeben.
"Überall atmet die Stadt ihr Eigenleben. Ury ist der einzige moderne Vedutenmaler seit den Venezianern des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Holländer malten ihre Städte, Straßen und Bauten mit der Liebe zum Detail. Ury läßt das Licht über die Formen gleiten und gibt den malerischen Gesamteindruck. - Dann ist es immer wieder und bis zuletzt Berlin, sein Berlin, die Stadt, mit der er sich zutiefst verwurzelt fühlt und die er, der Überfeinfühlige, Übersensitive, in ihren intimsten Regungen kennt, deren Luft zu atmen ihm Lebensbedürfnis ist, die er bei Tag und Nacht, bei Wind und Wetter - nunmehr auch in großen Formaten - darstellt." (Karl Schwarz, Lesser Ury. Ein Essay, Der Großstadtmaler, in: Hermann A. Schlögl/Karl Schwarz, Lesser Ury. Zauber des Lichts, Aust. Kat. Käthe-Kollwitz-Museum Berlin, Berlin 1995, S. 80). Sybille Groß konnte im vorliegenden Fall tatsächlich die topographische Situation auf das Genaueste bestimmen: das Pastell zeigt rechts die Einbiegung in die Lennéstraße am Tiergarten mit der Terrasse der Konditorei Moritz Dobrin, die 1926 dort neu eröffnete.