Ernst Barlach - Der singende Mann - image-1

Lot 93 Dα

Ernst Barlach - Der singende Mann

Auktion 1155 - Übersicht Köln
19.06.2020, 18:00 - Moderne und Zeitgenössische Kunst - Evening Sale
Schätzpreis: 80.000 € - 100.000 €
Ergebnis: 112.500 € (inkl. Aufgeld)

Ernst Barlach

Der singende Mann
1928

Bronze Höhe 49,5 cm Rückseitig unterhalb des rechten Fußes signiert 'E. Barlach' sowie mit dem Gießerstempel 'H. NOACK BERLIN' versehen. Aus einer bei Laur genannten Gesamtauflage von 57 Exemplaren, davon ca. 16 frühe Lebzeitengüsse aus der Edition der Galerie Flechtheim. Vorliegend ein Exemplar von wohl Anfang der 1950er Jahre. - Mit lebendiger gold-olivfarbener, sehr schöner Patina. Vereinzelte oberflächliche Kratzspuren im Kopfbereich.

Im Ausdruck fröhliche Gesichter im Werk Ernst Barlachs sind eher selten, explizit nur zweimal anzutreffen: mit dem "Singenden Jüngling" aus dem Jahr 1928/30 und der befreit lachenden Alten, eine Arbeit in Holz, die 1936/37 entsteht. Der Künstler überbringt dem Betrachter eine offensichtlich seelische Entlastung, die er, der sonst so besonnene und ernste Bildhauer, wohl zu allererst selbst empfindet und sich darüber äußert: „Manchmal scheint eine grundlose Heiterkeit sich aus Himmelhöhen directement herabzulassen auf den Boden der gewohnten Depression zu erweichen, die ihre Trübseligkeit dann von neuem Aufbauen muss, wenn sie es nicht lassen kann.“ (Ernst Barlach, Briefe, hrsg. von Friedrich Droß, München 1968, Bd. II, S. 776).
Die prägende Wirkung der Russlandreise von 1906 auf Barlachs Leben und sein Werk wird in der Literatur stets kolportiert und soll Einfluss auf die Jahrzehnte später entstandenen Plastiken nehmen: Etwa die schlichte Kontur, die große Natürlichkeit des Ausdrucks. Schmucklos und mit wenigen gestischen Andeutungen modelliert Barlach die reine Befindlichkeit und das Temperament des Sängers und verzichtet auf jedes beiläufige oder gar dekorative Detail. Nicht nur mit ihr erfüllt Barlach seine dereinst formulierte Forderung an sich selbst in reinster Anschauung: eine schlichte Formgebung, einfaches, weitfallendes Gewand, nahezu zu kubischen Formen reduziert, aber dennoch im „Fluß der Linen“ mit ornamentalem Schwung. Eine für den Künstler zur Kennung gewordene Physiognomie vermittelt eine besondere Auffassung und rezipiert unabhängig einer ikonographischen Geste eine anrührende Aussage. Einen sakralen, vielleicht auch liturgischen Hintergrund mag Barlach mit dieser köstlichen, nach hinten geneigten, wie entspannten Haltung verfolgen und mit dem aus voller Kehle singenden Mann eine Figur zu gestalten, mit der er eine, in seinem selbsterzählten Leben (Kritische Textausgabe, hrsg. von Ulrich Bubrowski, Leipzig 1997, S. 72) „menschliche Situation in ihrer Blöße zwischen Himmel und Erde“ voller Entschlossenheit und expressiver Haltung schildert, ganz das Gegenteil der sonst eher statuarisch wirkenden Arbeiten des Bildhauers. Insofern ist sie mehrdeutig, wie das Berthold Brecht mit seiner empfundenen Sicht auf diese Plastik belegt. Brecht, ein scharfer Beobachter seiner Zeit, beschreibt die realistisch-menschliche Qualität des „Singenden Mannes“ 1952 in den „Notizen zur Barlach-Ausstellung“ in West-Berlin: „Der singende Mann, eine Bronze von 1928, singt [anders als die drei Frauen von 1911] kühn, in freier Haltung, deutlich arbeitend an seinem Gesang. Er singt allein, hat aber anscheinend Zuhörer. Barlachs Humor will es, daß er ein wenig eitel ist, aber nicht mehr, als sich mit der Ausübung von Kunst verträgt.“ (Zit. nach: Der Bildhauer Ernst Barlach. Skulpturen und Plastiken im Ernst Barlach Haus - Stiftung Hermann F. Reemtsma, Hamburg 2007, S. 159).
Nach dem Freitod seines Galeristen Paul Cassirer 1926 ermuntert Alfred Flechtheim, der die Betreuung des bildhauerischen Werks von Barlach übernimmt, den bis dahin in Holz „verbissenen“ Bildhauer vermehrt Bronze für seine bildhauerische Umsetzung einzusetzen. Nach dem Güstrower Ehrenmal von 1927 gehört der „Singende Mann“ also zu den ersten Skulpturen, die Barlach mit „Lust und Überzeugung“ in dem für ihn neuen Material denkt.

Werkverzeichnis

Laur 432; Schult I 343

Provenienz

Privatsammlung, Niedersachsen; Villa Grisebach Auktion Nr. 130, Ausgewählte Werke, Berlin, 25. November 2005, Lot 27; Europäische Privatsammlung

Literaturhinweise

U.a.: Bronzen von Ernst Barlach, Galerie Flechtheim, November/ Dezember 1930, Auss. Kat. Berlin/Düsseldorf 1930, Nr. 19; Alfred H. Barr, Omnibus, German Sculpture, Berlin/Düsseldorf 1932, S. 38-42; Marguerite Devigne, Ernst Barlach, in: Les Beaux-Arts, Brüssel 1935, S. 14; Carl Dietrich Carls, Ernst Barlach, Das plastische, graphische und dichterische Werk, 5. Aufl., Flensburg/Hamburg 1950, S. 58; Paul Fechter, Ernst Barlach, Gütersloh 1957, S. 35; Franz Fühmann (Hg.), Ernst Barlach, Das Wirkliche und Wahrhaftige, Wiesbaden 1970, S. 159; Kunstblätter der Galerie Nierendorf, Ernst Barlach. Plastik, Zeichnungen, Graphik, 13.9.-5.12.1978, Berlin, September 1978, Kat. Nr. 41 mit Abb. Nr. 21 (dieses Exemplar); Anita Beloubek-Hammer, Ernst Barlach, Plastische Meisterwerke, Leipzig 1996, S. 116 f.; Helga Thieme, Ernst Barlachs Skulptur "Der singende Mann" in der Ausstellung "Neue deutsche Kunst", Oslo 1932, in: Ausst. Kat. Rostock 1998, S. 310 ff.

Ausstellung

Güsse befinden sich nach Laur in folgenden musealen Sammlungen: Neue Nationalgalerie, Berlin; The Cleveland Museum of Art, Cleveland/Ohio, USA; Museum am Ostwall, Dortmund; Ernst Barlach Haus, Hamburg; Sprengel Museum, Hannover; Kunsthalle Kiel; Museum Ludwig, Köln; Kunsthalle Mannheim; Pinakothek der Moderne, München; Lyman Allyn Museum, New London/Connecticut, USA; Museum of Modern Art, New York, USA; Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg; Schloss Gottorf, Schleswig; Staatliches Museum Schwerin; Rathaus Wedel, Privatbesitz (ein nummerierter Guss 4/10); Ernst Barlach Stiftung, Güstrow; Hamburger Kunsthalle; Von der Heydt-Museum, Wuppertal