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Lot 76 Dα

Ernst Barlach - Das Wiedersehen (Thomas und Christus)

Auktion 1177 - Übersicht Köln
17.06.2021, 18:00 - Moderne/Zeitgenössische Kunst - Evening Sale
Schätzpreis: 40.000 € - 50.000 €
Ergebnis: 81.250 € (inkl. Aufgeld)

Ernst Barlach

Das Wiedersehen (Thomas und Christus)
1926

Bronze Höhe 48,1 cm Seitlich an der Plinthe signiert 'Barlach' sowie mit dem Gießerstempel "H. NOACK BERLIN". Einer von 25 nicht nummerierten, seit 1938 entstandenen Güssen aus einer Gesamtauflage von 36 nicht nummerierten Exemplaren. - Mit dunkelbrauner Patina.

Die fünf Bronzeplastiken von Ernst Barlach, die wir in dieser Auktionssaison anbieten dürfen, geben einen Eindruck von der künstlerischen Entwicklung, die sich in seinem plastischen Oeuvre abzeichnet. Die „Russische Bettlerin mit Schale", 1906 entstanden, und die „Russische Bettlerin II", die, obwohl in dieser Größe erst 1932 realisiert, in ihrer Gestaltung der kleinen Fassung von 1907 folgt, verdeutlichen die motivischen und künstlerischen Impulse, die Barlach aus seiner mehrwöchigen Russland-Reise im Jahr 1906 zog. Nach seinen vom Jugendstil beeinflussten Anfängen findet der Künstler nun zu vereinfachten, in sich geschlossenen Formen. Die den Körper verhüllenden langen Gewänder der russischen Landbevölkerung setzt er leicht stilisiert in fließende, ornamentale Linien um. Überwiegen bei der früher entstandenen „Bettlerin mit Schale" noch die darstellerischen Details und der erzählerische Aspekt, so überführt er die Gestalt der vornüber gebeugten zweiten „Bettlerin" bereits in eine stark abstrahierte Form, die den menschlichen Körper unter den Stoffbahnen lediglich erahnen lässt.
Das Gewand bleibt auch in Barlachs später entstandenen Plastiken ein bestimmendes Element, er baut die Figur über die Gewandform auf. Sie bildet eine vereinheitlichende Hülle für den Körper und sorgt durch diese Formreduktion für eine Konzentration auf die Gestik und Haltung; auch emotionale Bewegtheit kann dadurch veranschaulicht werden.
Barlachs Hauptwerk ab 1910 wird stark von den gotischen Bildwerken in den Kirchen seiner norddeutschen Heimat beeinflusst. Die dort gesehenen formalen Grundsätze übersetzt er in seine eigene expressive Sprache. Dabei bedient er sich konkreter Kompositionen der sakralen mittelalterlichen Werke, ohne notwendigerweise deren ikonografischen Gehalt zu übernehmen. Es entstehen Plastiken von zeitloser Ausdruckskraft, die die Grundaussagen menschlicher Existenz veranschaulichen.
Die gelängten, statuarischen Gestalten von Christus und Thomas im „Wiedersehen" von 1926 sind durch ihre körperlich distanzierte, aber dennoch innige Umarmung zu einer Einheit verschränkt; die stark differierende Körperhaltung der beiden gibt eine beredte Aussage über die Umstände ihrer Begegnung. Blockhaft und erdschwer stellt sich der „Zweifler" von 1930 dar, das Gewand fasst den knienden Körper zu einer Einheit zusammen, die innere Zerrissenheit offenbart sich durch die Neigung des Kopfes und die gerungenen Hände. Die Figur des „Buchlesers" von 1936 - auch „Lesender Mann im Wind" betitelt - zeigt ebenfalls eine in sich geschlossene Einheit, Haltung und Blick sind ganz auf die Lektüre ausgerichtet. Die etwas gebauschten Gewandschöße und das zerzauste Haar können als Auswirkungen des Windes, aber auch als subtile Zeichen innerer Unruhe gelesen werden.

Werkverzeichnis

Laur 391; Schult I, 306

Zertifikat

Mit einer Expertise von Hans Barlach, Ratzeburg, vom 3, November 1992 (in Kopie)

Literaturhinweise

U.a. Friedrich Droß (Hg.), Ernst Barlach, Die Briefe II, 1925 - 1938, München 1969, Nr. 1448; Carl Dietrich Carls, Ernst Barlach, Das plastische, graphische und dichterische Werk, Berlin 1931, S. 84 mit ganzseitiger Abb., S. 85; Kunsthalle Mannheim, Bestandskatalog Skulptur, Plastik, Objekt, Mannheim 1982, S. 71, Nr. 440 mit Abb.; Kunsthalle Kiel, Katalog der Bildwerke, bearb. v. Ulrich Bischoff, Rendsburg 1986, S. 29 mit ganzseitiger Abb.; Heinz Spielmann (Hg.), Stiftung und Sammlung Rolf Horn, Schleswig 1995, S. 190-191, Nr. 117 mit Farbabb.; Heike Stockhaus, Ernst Barlach und der Geist seiner Zeit, in: Kat. Rostock 1998, S. 169 mit ganzseitiger Farbabb.; Elisabeth Laur, Vom Jugendstilkünstler zum expressionistischen Holzbildhauer, in: Kat. Flensburg/Ribe 2002, S. 50 f.; Naomi Jackson Groves, Ernst Barlach, Leben im Werk. Plastiken, Zeichnungen und Graphiken, Dramen, Prosawerk und Briefe, Taunus 2013, S. 99

Ausstellung

U.a. Berlin 1930 (Galerie Flechtheim), Bronzen von Ernst Barlach, Nr. 17; Bremen 1959 (Kunsthalle Bremen), Ernst Barlach, Nr. 501; Berlin 1981 (Akademie der Künste), Ernst Barlach. Werke und Werkentwürfe aus fünf Jahrzehnten, Nr. 61 mit Abb. auf Frontispiz; Kiel 1998 (Kunsthalle Kiel), Ernst Barlach. Mehr als ich, S. 109 mit ganzseitiger Farbabb.; Rostock 1998 (Kunsthalle Rostock), Ernst Barlach. Artist of the North, S. 169 mit ganzseitiger Farbabb.; Flensburg/Ribe 2002 (Museumsberg Flensburg/Ribe Kunstmuseum), Ernst Barlach, Wege und Wanderungen. Vom Jugendstil zum Expressionismus, Nr. 25; Hamburg 2003 (Hauptkirche St. Katharinen), Ernst Barlach, Mystiker der Moderne, S. 298; Kyoto/Tokyo/Yamanashi 2006 (The National Museum of Modern Art/The Universitiy Art Museum/Tokyo National University of Fine Arts and Music/Yamanashi Prefectural Museum of Art), Ernst Barlach Retrospective, Nr. 142