Lot 75 D

Stadtansichten nehmen im Werk Mela Muters einen besonderen Platz ein. In dieser Darstellung eines kleinstädtischen Marktplatzes im Sommerregen gelingt ihr eine besonders lebendige Schilderung einer alltäglichen Szene. Der Dorfbrunnen, der den optischen Ankerpunkt der Komposition bildet, ist an den linken Bildrand gerückt, dahinter erhebt sich stark angeschnitten eine Kirchenfassade. Frauen, teils mit Regenschirmen ausgestattet, eilen mit gesenkten Köpfen über den Platz, die schlanken Baumkronen der Platanen bieten ihnen nur wenig Schutz vor dem Regen. Im Hintergrund sind die gelben und grauen Fassaden der den Platz umgebenden Häuser zu sehen.
Muter baut die gesamte Komposition aus locker gesetzten Pinselstrichen auf und setzt den hellen Leinwandgrund souverän als gestalterisches Mittel ein. Die von Pfützen durchzogene unebene Kopfsteinpflasterung löst sie in vielfarbige kurze Wellenlinien auf und versetzt sie damit optisch in Bewegung. Die Konturen der Häuser und Baumkronen verschwimmen im Regen, mittels schnell gesetzter schräger Strichlagen lässt die Malerin sie flirrend ineinander übergehen. Über die Bildfläche verteilt suggerieren lange schmale Schlieren - teils in Weiß aufgesetzt, teils in die feuchte Farbe gekratzt - die Bahnen der fallenden Tropfen in sehr lebendiger Weise. Dem Regen und dem dunklen Himmel zum Trotz ist die Atmosphäre keineswegs düster, vielmehr bestimmen Hellgelb und gebrochenes Weiß sowie warme Steintöne die Komposition.
In der rückseitig ausgeführten, aber letztendlich verworfenen Ansicht kombiniert die Künstlerin zwei gegensätzliche Sujets in außergewöhnlicher Weise. Sie versetzt hier die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten in eine moderne Industrielandschaft - eine ikonografische Verschränkung, die Muter sehr ähnlich auch in dem Gemälde „Flucht nach Ägypten. Der Flusshafen von la Villette“, um 1938/39 (Sammlung Boleslaw und Lina Nawrocki) umsetzte.