Carl Spitzweg
Der abgefangene Liebesbrief
um 1850 1860
Öl auf Leinwand. 47,5 x 26,5 cm.
Auf der Rückseite bezeichnet: Rhombus Spitzweg, ebenso auf dem Keilrahmen.
Spitzwegs Bilder werden oftmals – zu Recht – als „poetisch“ bezeichnet, „Der abgefangene Brief“ zeigt eine andere Qualität der Bilder Spitzwegs, sein großes erzählerisches Talent.
Wir blicken auf eine pittoreske Hausfassade und werden Zeugen einer kleinen, alltäglichen Tragikomödie. Oben im Dachgeschoss wohnt ein fescher blonder Student, der einen Liebesbrief für seine Angebeteten eine Etage tiefer abseilt. Die Adressatin bekommt nichts davon mit, denn das brave Mädchen ist ganz und gar ins Stricken vertieft; die Gouvernante dafür umso mehr – mit sicherem Instinkt erblickt sie die nahende Gefahr und hat die Hände bereits zu einem dramatischen Schreckensgestus erhoben, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
Wie in anderen Werken Spitzwegs, so ist auch hier die Wahrnehmung ein zentrales Element der Bilderzählung, die Komik der Schilderung ergibt sich dadurch, dass der Betrachter sieht, was die einzelnen Akteure nicht sehen: Der Student sieht nicht, dass seine tollkühne Aktion die Adressatin nicht erreichen wird; das Mädchen nimmt den ihr zugedachten Liebesbrief gar nicht wahr; die Gouvernante wiederum sieht das Unglück nahen, ist jedoch handlungsunfähig.
In der Figur der Gouvernante zeigt sich Spitzwegs oft hervorgehobene Fähigkeit, Pointen zu setzen, sie zeigt aber eben auch sein erzählerisches Talent, denn der Künstler überlässt es dem – das gesamte Tableau der Akteure überblickenden – Betrachter, die Geschichte zu Ende zu erzählen. Die Gouvernante steckt ja in einem Dilemma: Sie könnte schreiend ihrer Empörung Ausdruck verleihen, was aber das Mädchen erst auf den Brief aufmerksam machen würde. Sie könnte versuchen, mit einem Sprung zum Fenster den Brief vom Faden abzureißen, was aber den Studenten alarmieren und ihn vielleicht zu einem zweiten Versuch animieren würde. Sie könnte aber auch versuchen, unter einem Vorwand die Läden des Fensters zu schließen, was kurios wäre mitten am Tag. Der stumme Schrei der Gouvernante und ihr Schreckensgestus sind ein retardierendes Moment in dieser Erzählung – wie die Geschichte enden wird, bleibt offen und der Fantasie des Betrachters überlassen.
Wie üblich bei Spitzweg geht die gelungene Erzählung einher mit einer brillanten malerischen Qualität. Dies zeigt etwa die subtile Darstellung der von der Sonne beschienenen Fassade mit dem dramatischen Helldunkel, das der Schatten erzeugt (man beachte die Komik des bedrohlichen Schattens, den die Figur des Studenten auf die Fassade wirft, als würde sie wie ein Geist zum Mädchen kriechen). Eine weitere Fassung dieses Themas befindet sich heute im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt (Inv.-Nr. 141).
Werkverzeichnis
Wichmann 999
Provenienz
Sammlung Thyssen-Bornemisza, Schloss Rhoncz, Lugano. - Schweizer Privatsammlung (Schaffhausen). - Auktion Neumeister, München, 26.7.2002. - Dort erworben.
Literaturhinweise
G. Roennefahrt: Carl Spitzweg. Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde, Ölstudien und Aquarelle, 1960, Nr. 1036. - Vgl. J. Ch. Jensen: Katalog Museum Georg Schäfer, Schweinfurt, S. 234-236 mit Farbtaf. (2. Fassung). - Vgl. J. Ch. Jensen: Carl Spitzweg, Ausst.-Kat. Schweinfurt 2002, S. 118, Farbtaf. S. 249, Nr. 141 (2. Fassung). - S. Wichmann: Carl Spitzweg. Verzeichnis der Werke, 2002, Abb. S. 412, Nr. 999.
Ausstellung
Ausstellungen
Kunstverein Köln, 1860, Nr. 152 (als "Briefpost")
Sammlung Schloss Rohoncz. Gemälde, Ausst. Neue Pinakothek, München, 1930