Lot 302 Dα

"Das Bild eines radikalen Gemäldes ist bestimmt durch die Wesensart seines Materials: aufgetragene, gemalte Farbe. Der Wesensursprung liegt in ihrer Erscheinungsform als Farb-Bild. Die von diesem Farb-Bild ausgehende ursprüngliche Sinneswahrnehmung ist ihrer Struktur nach verwandt mit einer inneren Erfahrung (durch das Parietalauge). Mit Nachdruck ist darauf hinzuweisen, daß die Wesensbestimmung eines radikalen Gemäldes nichts mit der Frage zu tun hat, welche Farbe es hat, sondern vielmehr mit der Frage nach der Funktion eines Bildes, dessen Objektcharakter durch gemalte Farbe bestimmt ist. Der strittige Punkt bezieht sich nicht auf das unabhängig vom Betrachter vorhandene Objekt, dessen konkrete Merkmale der Wahrnehmung - potentiell - offenstehen. Er bezieht sich auf den Vollzug der Wahrnehmung: auf das ursprüngliche Erlebnis des Betrachters in seiner Begegnung mit dem Gemälde.
Die Funktion eines radikalen Gemäldes liegt darin, das Betrachter-Ego zur visuellen Begegnung als bewußten Akt des Sich-Einlassens aufzufordern: zu einem Erlebnis von ursprünglichem Charakter. Der Betrachter soll sich dabei seiner Gefühle vergewissern. Erfolgt unser Erlebnis und Verständnis eines Gemäldes auf dieser elementaren Stufe, so schließen sie auf innige Weise unsere Fähigkeit zur Farbwahrnehmung und unser Gefühl für Farbe ein." (Der Text basiert auf Gesprächen, die von Joseph Marioni und Günter Umberg Anfang der 1980er Jahre geführt wurden: Rupert Walser, Joseph Marioni, Günter Umberg, Outside the cartouche, Zur Frage des Betrachers in der radikalen Malerei, Ausst.Kat., Galerie Dreher und Galerie Walser, München 1986, S. 15-16).