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Lot 234 D

Karl Schmidt-Rottluff - Stickendes Mädchen

Auktion 1143 - Übersicht Köln
29.11.2019, 18:00 - Moderne Kunst I
Schätzpreis: 250.000 € - 350.000 €

Karl Schmidt-Rottluff

Stickendes Mädchen
1909

Aquarell über Kreide auf gelblichem Karton 66 x 46,8 cm Unter Glas gerahmt. Oben links schwarz signiert und datiert 'S. Rottluff 09' sowie rückseitig mit Bleistift betitelt 'Stickendes Mädchen'. - Äußerst farbfrisch erhalten.

Der junge Karl Schmidt-Rottluff, 25-jährig, schuf 1909 während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in Dangast erstmalig eine Folge großformatiger Aquarelle, in denen er stilistische Tendenzen seiner bisherigen Malerei weiter fortschrieb, resümierte und entwickelte. Aus diesem Konvolut von sehr wenigen heute überlieferten Blättern stammt auch das „Stickende Mädchen“. Es zählt zu den frühen expressionistischen Meisterwerken des Künstlers in diesem Medium und ist vor allem im erweiterten Kontext der „Brücke“, die Schmidt-Rottluff 1905 in Dresden mitbegründete, ein Zeugnis der Moderne und des gewaltigen künstlerischen Umbruchs in dieser Zeit.
Stilistisch erarbeitete sich Schmidt-Rottluff in den Jahren 1908/1909 seinen eigenen künstlerischen Weg und dies bezeichnenderweise nicht direkt in der Gruppe seiner Freunde und Künstlerkollegen, sondern parallel zu ihnen. Er hatte sich in Dangast zurückgezogen, an der Nordseeküste ein Atelier gemietet. Unglücklicherweise ging dort der Großteil seiner malerischen Produktion in einem Brand verloren, so dass tatsächlich gerade diese phänomenalen Aquarellblätter von 1909, die er immer als den Gemälden ebenbürtig empfand, heute einen Begriff davon geben, mit welcher Kraft es Schmidt-Rottluff damals gelang, einer gegebenen Inspiration intuitiv und ungehindert zu folgen. In diesem Sinn hat man von diesen Jahren als einer Zeit erster und großer künstlerischen Reife gesprochen. Karl Schmidt-Rottluff verehrte noch 1939 Jawlensky zum 75. Geburtstag ein Pendant zum „Stickenden Mädchen", das Aquarell-Blatt „Bei der Handarbeit", ebenfalls 1909 in Dangast entstanden (heute im Brücke-Museum Berlin, s. Vergleichsabb.).
Armin Zweite fasste in Bezug auf diese Aquarell-Produktion zusammen: „Gerade in herausragenden Arbeiten befreit Schmidt-Rottluff mehr noch als in seinen Gemälden die Gegenstandswelt von allem Statischen, bringt die Materie gleichsam zum Schmelzen. Das Flüchtige der Erscheinungen ist jedoch kein optisches Phänomen. Zur Darstellung kommt vielmehr das bildnerische Verfahren, d.h. das Aquarellieren selbst, dessen Anreize, Impulse und gestaltgebende Kräfte aus dem Subjekt des Künstlers hervorgehen, dem die Außenwelt nicht mehr verbindliches Ziel der bildnerischen Vergegenwärtigung ist, sondern vor allem Anlaß, einer Empfindung Ausdruck zu verleihen." (Armin Zweite, „Das Erleben transzendentaler Dinge im Irdischen". Schmidt-Rottluff als Mitglied der ‚Brücke', in: Gunther Thiem/ Armin Zweite (Hg.), Karl Schmidt-Rottluff. Retrospektive, Ausst. Kat. Kunsthalle Bremen/ Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1989, S. 34).

Motivisch entstehen in Dangast dynamische Landschaften, blaue Vareler Hafenansichten, auch einige Stillleben, aber vor allem eine Reihe Porträts (von Erich Heckel und Rosa Schapire) und weitere weibliche Bildnisse als Halbfiguren. Es sind bezeichnenderweise keine „wilden“ Brücke-Akte im Freien, sondern intime Momentaufnahmen eines persönlichen Vis-à-Vis. Neben einem hinreißenden Blatt wie „Sonnenuntergang“ (möglicherweise ein weiteres Porträt Rosa Schapires oder der Oldenburger Malerin Emma Ritter, mit über dem Kopf verschränkten Armen im Liegestuhl - heute Kunstmuseum Düsseldorf, s. Vergleichsabb.) gibt es Bildnisse junger Frauen mit gesenktem Kopf, vertieft in ihre Handarbeit. Diese ruhigen Vorgaben, die uns heute so biedermeierlich anmuten, aber damals eine natürliche wie alltägliche weibliche Beschäftigung waren, entfalten sich nun künstlerisch in Blättern von einer wahren Farbexplosion. „Der Rhythmus, das Rauschen der Farben, das ist das, was mich immer bannt und beschäftigt“, schrieb Schmidt-Rottluff an Gustav Schiefler 1907 (zit. nach Ausst. Kat. Bremen/München, 1989, op. cit. S. 80).

Ein klares, strahlendes Rot, ein Blau, ein Gelb, ein Grün, bezeichnenderweise bereichert um Zwischentöne und um ein vermittelndes, dünnflüssiges Grüngelb bzw. Oliv, alles mit sattem Pinsel und in zügiger wie rascher Bewegung aufgetragen, ohne jegliche Vorzeichnung, konstituieren die Gestalt des „Stickenden Mädchens“. Die Halbfigur ist frontal ganz in der Zweidimensionalität des Blattes aufgehoben. Der Farbauftrag ist linear gebunden, mit unruhigen Schlieren, breiteren Zickzackbewegungen, einzelnen Parallelsetzungen, farbigen Konturen und um den gezielten Einsatz lokaler, tief schwarzer Akzente ergänzt. In den Zwischenräumen, die der impulsive Gestus freilässt, erscheint der helle Papiergrund und gibt der Farbkomposition einen wohlkalkulierten Lichtkontrast, der die Wirkung der Farbe potenziert und zusätzliche Strahlkraft bedeutet. Schmidt-Rottluff hatte in seiner frühen Ölmalerei ähnliche Effekte erprobt und es scheint, als sei die Aquarelltechnik ihm nun ein ideales Medium, um sich frei- und auszumalen. Er experimentiert auf großen Papierbögen formatfüllend mit den Möglichkeiten und den Arten des Pinselauftrags, studiert vielleicht im Nachhinein die Farbwirkungen und Konsequenzen seiner rhythmischen Farbschrift, vergleicht die Gegebenheiten von Transparenz, Farbe und Licht, alles Momente zur absoluten Steigerung einer Bildwirkung, der man nicht ausweichen kann, die vielleicht farbtrunken machen soll.

Karl Schmidt-Rottluff soll nach der Begegnung mit Originalen von Vincent van Gogh in der Galerie Ernst Arnold in Dresden im November 1905 sich endgültig entschlossen haben, das Architekturstudium zu „schmeißen“, um Maler zu werden. Er verehrte Munch aus einer gewissen respektvollen Ferne, er befreundete sich mit Emil Nolde, den er 1906 in Alsen besuchte und war tief beeindruckt von den „züngelnden Farbstürmen“ des älteren Kollegen und verehrte ihm sein kleines Selbstbildnis, in pastosen Pinselzügen gemalt. Es ist eine Farbmodulation in Komplementärfarben, die in der Nolde-Stiftung noch heute verwahrt ist (s. Vergleichsabb.). Nolde bestärkte ihn, sich mit der Natur und mit seinen Empfindungen vor der Natur als Künstler auseinanderzusetzen. Kirchner charakterisierte das Werk Schmidt-Rottluffs in seiner Brücke-Chronik rückblickend als „monumentalen Impressionismus“. Dies trifft in gewisser Weise nur eines der Momente der Malerei Schmidt-Rottluffs, sein starkes Temperament, seine Vehemenz, seine Naturliebe wie seine Lebensfreude.

Zertifikat

Wir danken Christiane Remm für freundliche ergänzende Auskunft; das Aquarell ist im Archiv der Karl und Emy Schmidt-Rottluff Stiftung, Brücke Museum Berlin, dokumentiert.

Provenienz

Galerie Wirnitzer, Berlin (Ende der 1950er Jahre dort erworben); Privatsammlung, Süddeutschland; Villa Grisebach, Auktion 53, Ausgewählte Werke, Berlin, 29. November 1996, Lot 10; Privatsammlung, Berlin