„Die Briten sind die Gängelungen der EU leid“

Henrik Hanstein im ausführlichen Interview mit der Tageszeitung Die Welt über die Auswirkungen des Brexit auf den internationalen Kunsthandel.

Alle rechnen nach dem Brexit mit einem Kollaps der britischen Wirtschaft. Stimmt das überhaupt? Henrik Hanstein, Präsident der Europäischen Versteigerer, sieht die Verlierer eher auf der Seite der EU.

In drei Wochen ist Großbritannien wieder eine Insel. Ein Brexit ohne Deal droht. Welche Auswirkungen das auf den Kunsthandel hat, wollten wir von Henrik Hanstein wissen. Er ist Chef des ältesten deutschen Auktionshauses, Lempertz in Köln, Berlin und Brüssel, und Präsident des Europäischen Versteigererverbands.

WELT: Boris Johnson will die Europäische Union zum 1. November verlassen. Was halten Ihre britischen Kunsthandelskollegen vom Brexit?

Henrik Hanstein: Die Londoner City ist natürlich ein Europafreund. Die EU ist eine funktionierende, erfolgreiche Freihandelszone. Sie ist für alle Seiten von Vorteil. Aber jetzt setzen sich schon viele Kunstbesitzer von der Insel ab. Es gibt einen Run auf Paris und Brüssel. Und nach allem, was man hört, geht auch die Europäische Kommission davon aus, dass der Brexit jetzt kommt.

WELT: Was erwarten Sie von der Politik?

Hanstein: Europa muss es schaffen, ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien zu schließen. Der Wegfall der Binnengrenzen war bedeutsamer als der Euro. Der Kunsthandel wird sehr vorsichtig agieren. Viele Händler, die auf der Tefaf in Maastricht oder an den Messen in Paris und Brüssel teilnehmen, werden die Messen dafür nutzen, ihre Ware auf den Kontinent zu bringen und hier einzulagern. Die Speditionen sind derzeit ausgelastet. Natürlich wird es direkt nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU ein bisschen chaotisch werden. Aber es wird sich einpendeln. Es gibt auch ein Leben nach dem Brexit. Ich kann verstehen, dass Großbritannien diese permanente Gängelung und Überbürokratisierung der EU leid ist. Und da bin ich ganz auf der Seite der Briten. Brüssel stellt sich einfach recht stur – oder pokert. Im Übrigen verlieren die „Nordländer“ in der EU nach dem Brexit ihr Veto. Das wird die Politik verändern.

WELT: Was bedeutet das für den europäischen Kunsthandel?

Hanstein: Das Geschäft mit Großbritannien wird bürokratischer und schwieriger, in beide Richtungen. Unser Problem mit dem Brexit ist, dass der europäische Kontinent vom Haupthandelsplatz „isoliert“ wird. Und als Kaufmann muss man zudem vom Worst Case ausgehen. Wenn es keine Übergangsfristen gibt, dann bricht einiges zusammen. Als Erstes droht das Währungsrisiko. Jeder Kontinentaleuropäer, der jetzt ein Kunstwerk nach London zum Versteigern schickt, läuft Gefahr, dass nach dem Brexit das Britische Pfund ins Schlingern gerät. Dann kann es sein, dass er nach der Auktion weniger bekommt, als er erwartet und vereinbart hatte.

WELT: Und wenn es nicht verkauft wird?

Hanstein: Dann muss der Einlieferer nach dem 1. November theoretisch Einfuhrumsatzsteuer bezahlen, wenn er es zurückholen will. In Deutschland sind das sieben Prozent für Gemälde und Skulpturen und 19 Prozent für angewandte Kunst und Fotografie. Nach dem Brexit würde sich damit letztendlich auch das Aufgeld erhöhen für Käufer, die in Großbritannien etwas ersteigern und in die EU einführen wollen. Diese Steuer ist prohibitiv.

WELT: Der Europa-Chef von Christie’s Dirk Boll hat es gegenüber der „Zeit“ wohlwollender ausgedrückt, die EU werde wohl ein Verkäufermarkt bleiben.

Hanstein: Natürlich kommt mehr aus Europa nach London als umgekehrt. Das ist aber nur eine Seite der Medaille, denn die Verkehrswege werden ja ganz erheblich behindert. Großbritannien erhebt einheitlich nur fünf Prozent Einfuhrumsatzsteuer, deshalb hatten bisher auch etliche Großgalerien eine Filiale in London, über die sie verkaufen. Die Welt ist aber in den vergangenen Jahren mobiler und schneller geworden und durch die Digitalisierung auch so beweglich, dass ich nicht überrascht wäre, wenn sich nach dem Brexit die Gewichte etwas verschieben würden.

WELT: In welche Richtung?

Hanstein: Paris wird sicherlich profitieren. Frankreich hat vor einigen Jahren die Mehrwertsteuer von 6,5 auf 5,5 Prozent reduziert, um gegenüber Großbritannien wettbewerbsfähiger zu werden. Auch Brüssel hat besondere Standortvorteile. Es ist zentral gelegen für Großbritannien, für Deutschland, für halb Europa. Belgien hat eine einheitliche Einfuhrumsatzsteuer von nur sechs Prozent. Wenn sie zum Beispiel eine bedeutende Antiquitätensammlung aus den USA nach Europa holen, dann ist ja klar, wohin sie sie importieren. Nicht in Deutschland jedenfalls, wo 19 Prozent Umsatzsteuer fällig wären. Diese Steuerunterschiede sind auch ein Grund, warum die Tefaf, die wichtigste Messe der Welt für alte Kunst,
nicht etwa in Köln ist, sondern in Maastricht in den Niederlanden, wo vor etlichen Jahren die Mehrwertsteuer für die Messe von 19 auf sechs Prozent reduziert wurde.

WELT: Sie sind ein Cheflobbyist für den Kunsthandel in Europa. Was fordern Sie von Deutschland?

Hanstein: Die britische Regierung hat die Absicht, die Einfuhrumsatzsteuer nach dem Brexit komplett abzuschaffen. Eine Antwort wäre, die Einfuhrumsatzsteuer für Kunst hierzulande einheitlich auf sieben Prozent zu konzentrieren. Dann könnte Deutschland zumindest mit den Nachbarländern kompatibel sein.

WELT: In Großbritannien fallen pro Jahr rund 50 Millionen Pfund Einfuhrumsatzsteuer für Kunst an. Einnahmen, die London dann aber verlieren wird.

Hanstein: Ja, aber der Kunsthandel macht in Großbritannien jährlich Umsätze von über zehn Milliarden Pfund und beschäftigt vom Bilderrahmer bis zum Versteigerer ungefähr 100.000 Mitarbeiter. Besonders in London ist der Kunsthandel eine bedeutende Industrie. Die Einbuße der Einfuhrumsatzsteuer wäre eine „quantité négligeable“. Insofern kann London sie auch abschaffen. Ein Drittel davon ist eh Import via London in die EU!

WELT: Aber gegen null Prozent Umsatzsteuer könnten auch sieben Prozent in Deutschland nicht helfen.

Hanstein: Nein. Aber immerhin wäre der Unterschied zu den anderen wichtigen EU-Staaten nicht mehr so groß. Und manche Auslandsfiliale einer deutschen Galerie würde sich erübrigen, wenn wir einen einheitlichen Einfuhrumsatzsteuersatz von sieben Prozent hätten. Deutschland würde damit mehr gewinnen als verlieren und die Kunstszene hier auch.

WELT: Sind sie darüber im Gespräch mit der Kulturstaatsministerin, oder ist der Gesprächsfaden abgerissen seit den Kontroversen um das Kulturgutschutzgesetz (KGSG)?

Hanstein: Natürlich sind wir als Kunsthistoriker und als Händler Freunde eines Kulturgutschutzes. Aber wir haben gegen dieses Gesetz votiert, weil wir es gern weniger kompliziert hätten und mit weniger Bürokratie. Und Sammler und Handel haben der Regierung einen Zacken aus der Krone gebrochen, weil sie nicht ganz ohne Erfolg eine Verfassungsbeschwerde zum KGSG eingelegt haben. Die bisherigen Erfahrungen sollten bald zu einer Evaluation führen. Gleichwohl hätten wir es begrüßt, wenn die Regierung dem Vorschlag des Normenkontrollrat gefolgt wäre und ein staatliches Vorkaufsrecht eingeführt hätte. Das wäre die ideale Regelung gewesen, die in Großbritannien, Benelux und Frankreich gut funktioniert. Und ich habe bis jetzt keinen Privatsammler gehört, der sich dagegen ausgesprochen hätte.

WELT: Welche Argumente bringen Sie in die Evaluation des KGSG ein?

Hanstein: Wir sind angeblich das reichste Land Europas, und die Kultur muss uns etwas wert sein. Warum aber will der Staat bei uns so in das Eigentum eingreifen, dass es nahezu einer Enteignung gleicht? Wer kauft sich einen Golf, den er nur in Niedersachsen fahren darf? Wenn der Staat Kulturgüter für die Allgemeinheit sichern will, dann soll er sie auch erwerben für die Allgemeinheit. Man muss allerdings die Koordinaten zurechtrücken: Die Novellierung fasst den Begriff des Kulturgutes strenger als das alte Gesetz. Und es gibt ein wegweisendes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Eintragung eines Objekts in die Listen. Demnach darf kein vergleichbares Objekt in einem öffentlichen Museum sein. Sie können also z. B. keinen Beckmann oder Kirchner unter Schutz stellen, denn in allen großen Museen gibt es genügend repräsentative bedeutende Werke von diesen Künstlern. Insofern muss man Entwarnung geben.

WELT: Warum kommt die Entwarnung aber nicht bei den Sammlern an?

Hanstein: Die Eigentümer von Kunstwerken wollen einfach Gewissheit haben, dass keine Gefahr droht, dass ihr Kulturgut unter Schutz gestellt und ihr Vermögen reduziert werden könnte. Doch diese Sicherheit will die Regierung nicht klar und eindeutig geben. Das hat auch die Sammler außerhalb Deutschlands sehr verunsichert.

WELT: Können Sie das erklären?

Hanstein: Wenn ich ein Gemälde von Brueghel aus Belgien oder Holland für die Auktion akquiriere, dann gab es anfangs die Befürchtung, dass man für das Gemälde später eine Ausfuhrgenehmigung brauche. Die Länder haben mittlerweile nachgebessert und stellen klar, dass ein Bild nur dann diese Genehmigung benötigt, wenn es identitätsstiftend sei. Aber wenn man ein Bild für ein paar Wochen nach Deutschland holt, um es vor der Auktion auszustellen, dann kann es in dieser Zeit nicht identitätsstiftend werden. Insofern können wir unseren ausländischen Kunden jetzt sagen, dass ihr Bild nicht dem Kulturgutschutzgesetz unterliegt. Aber das bedarf einer offiziellen Klärung.

WELT: Haben die Sammler überreagiert? Viele sollen ihren Kunstbesitz aus dem Land gebracht haben, auch auf den Rat mancher Auktionshäuser.

Hanstein: Wir Kunsthändler haben die Mentalität unserer Kunden und die Befindlichkeiten der Sammler
unterschätzt. Das hat dann zu fluchtartigen Überreaktionen geführt. Manche haben ihre Kunst nach England gebracht und müssen sie jetzt ganz schnell zurückholen, weil sie sonst eventuell nach dem Brexit Einfuhrumsatzsteuer bezahlen müssten.

WELT: Der Staat suggeriert, dass der Kunsthandel sehr viel verschleiern will, etwa die Provenienzen von Objekten mit NS-Geschichte oder Kolonialvergangenheit. Können Sie die moralische Perspektive verstehen?

Hanstein: Nein. Ich würde die Moral nicht über das Gesetz stellen. Für mich ist das Gesetz die kodifizierte Moral. Wir leben in einem Rechtsstaat. Lempertz war das erste Haus in Deutschland, das sich dem Art Loss Register angeschlossen hat. Wir wollten dabei sein, um unsere Sorgfaltspflichten zur Provenienz zu erfüllen. Das ist bis heute ein unübertreffliches System. Und der Kunstmarkt war dabei proaktiv. Es sind doch die Museen, die bei der Provenienzforschung Jahrzehnte hinterherhinken. Der Kunsthandel erledigt seit über 40 Jahren seine Hausaufgaben. Wenn uns diesbezüglich die Regierung Vorwürfe macht, dann will sie vielleicht von eigenen Versäumnissen ablenken.

WELT: Der Kunsthandel steht auch in der Kritik, Geldwäsche zu begünstigen. Ist die neue Geldwäscheverordnung der EU die Lösung?

Hanstein: Die 5. Europäische Geldwäscherichtlinie will den sogenannten „illicit traffic“ unterbinden und die Geldströme des Drogenhandels und Terrorismus trockenlegen. Das ist im Grundsatz richtig. In dem Sinne habe ich keine Probleme damit, dass ihr auch der Kunsthandel unterliegt, wie übrigens alle Kaufleute. Das Prinzip „Know Your Customer“ ist doch das vornehmste was man eigentlich machen kann. Wir Versteigerer haben da weniger Probleme. Wir kennen unsere Kunden, können aber auch nicht alle Interessenten, die sich für eine Auktion registrieren, vorher zur Due-Diligence-Prüfung bitten. Die würden zurecht entgegnen, sie hätten sich ja noch gar nicht entschieden zu kaufen. Interessanterweise nimmt sich die Bundesregierung von diesen Sorgfaltspflichten aus: Bei staatlichen öffentlichen Auktionen wird erst geprüft, wenn der Hammer runtergegangen ist. Das muss auch für uns gelten.

WELT: Ab wann greift die EU-Verordnung?

Hanstein: Der Kunsthandel muss sich bei allen Umsätzen über 10.000 Euro ab Ende Januar 2020 darauf einstellen. Leider bringt auch dieses Gesetz ein hohes Maß an bürokratischer Arbeit mit sich. Manches ist kaum umsetzbar. Auf einer Kunstmesse etwa, wo viele Händler und Galeristen bedeutende Umsätze machen, kann man dem KYC-Prinzip kaum gerecht werden. Sie müssten von ihren Kunden eine Ausweiskopie verlangen, ihre Steuernummer erfragen, am besten ihre Steuerberater und Ansprechpartner bei der Bank kontaktieren, um zu kontrollieren, ob sie ihr Geld rechtmäßig erworben haben. Da wird sich mancher Kunde auf dem Absatz umdrehen. 80 Prozent aller europäischen Kunsthandlungen sind Kleinstbetriebe mit wenigen Mitarbeitern. Wie sollen sie den zusätzlichen Aufwand bewältigen?

WELT: Warum hat der Staat den Kunsthandel so sehr auf dem Kieker. Es ist ja kein bedeutender Wirtschaftszweig.

Hanstein: Das wüsste ich auch gern. Kulturell ist er sehr bedeutend.

WELT: Aber was die Umsätze in Deutschland angeht eher nicht.

Hanstein: Circa 1,5 Milliarden Euro sind doch keine Peanuts? In Bezug auf den Kunstmarkt sind die Politiker falschen Informationen aufgesessen. Sie haben sich buchstäblich reingeredet in diese Geschichte. Nehmen Sie etwa die europäische Importverordnung, die bald in Kraft tritt. Nun muss alles, was in die Europäische Union importiert wird und älter ist als 200 Jahre, überprüft werden, ob es rechtmäßig aus seinem Herkunftsland ausgeführt wurde. Das geht noch auf EU-Kommissar Pierre Moscovici zurück, der wie Monika Grütters auf diese Weise den Schmuggel aus dem Orient bremsen wollte. Nur hat sich das ja gerade als unrichtig herausgestellt. Die Dunkelfeldstudie der Bundesregierung war ein Fiasko. Für 1,2 Millionen Euro Kosten wurde festgestellt, dass der vermeintliche Schmuggel mit archäologischen Objekten aus dem Orient bei uns kaum stattfindet. Dank dieser falschen Annahmen, er würde den Terror finanzieren, ist der Markt in Deutschland für Archäologie jetzt übrigens tot, auch zum Nachteil der Museen. Das hätte man sich alles sparen können. Kunsthändler und Galeristen sind Kulturträger. Das sollte auch die Regierung anerkennen. Warum ist Deutschland die Kunst nur etwas wert, wenn sie im Museum hängt?