Otto Dix - Kopf am Abend - image-1

Lot 738 Dα

Otto Dix - Kopf am Abend

Auction 877 - overview Köln
11.06.2005, 00:00 - Moderne Kunst
Estimate: 60.000 € - 70.000 €
Result: 71.400 € (incl. premium)

Aquarell, Tusche und Deckfarben 38,1 x 27,6 cm auf genarbtem festen Aquarellpapier, unter Glas gerahmt. Oben links mit Bleistift signiert, datiert und mit der Werknummer versehen Dix 23/246 sowie rückseitig unten am Rand betitelt Kopf am Abend. - Rückseitig am unteren Rand links mit einem Papieraufkleber von Nierendorf, Köln, "Neue Kunst", mit der in Bleistift eingeschriebenen Nummer "867" sowie am Blattrand links mit weiteren handschriftlichen [Inventar?-]Vermerken in Bleistift.
Pfäffle A 1923/43 ("Verschleierte mit Hut")

Das in einer Korrepondenz von 1961/1962 zwischen Eigentümer und Künstler nochmals bestätigte und datierte Blatt, wunderbar farbfrisch erhalten, war bislang dem Archiv nur in dem Dix seinerzeit zugesandten Foto, ohne spezifische Details, bekannt.
Der verschleierten "Nächtlichen Erscheinung" (Pfäffle A 1923/40 mit Farbabb. S. 101) aus dem gleichen Jahr verwandt, spielt Dix hier wie in so mancher anderen Darstellung mit dem Spannungsmoment der Maskierung und De-Maskierung menschlicher "Larven". Der scheinbar so dekorativ verhüllende Schleier verleiht dem Antlitz eine abgründige Vieldeutigkeit. Erotische Faszination erscheint doppelbödig und unberechenbar, hinter der Oberfläche und dem Habitus lauern elementare Zerstörungskräfte und menschlicher Verfall. Das vorliegende Bildnis einer Kokotte oder "Strichdame" entbehrt nicht dieser schillernden Dekadenz, ein partiell über die Malerei gelegter silbriger Glanz gewinnt irrlichternde Effekte in der Dunkelheit.
Meisterlich schöpft Dix die Möglichkeiten des künstlerischen Mediums aus. Die intensiven Farben werden flüssig aufgetragen und graphische Elemente, Ritzstrukturen des Pinselstils oder feines, abstraktes Liniengespinst, entwickeln das Stoffliche, die Suggestion von "Fell" oder schwarzer "Spitze".
"Dix hat an der Demontage des schönen Scheins fundamentalen Anteil. [...] Was zwischen 1915 und 1924 an Bildern, Zeichnungen und druckgraphischen Blättern entstand, räumt auf eine höchst unbequeme Weise mit den idealistischen Prämissen und den fiktiven Statisten einer Kunst auf, die sich den tragischen Aspekten, den häßlichen Wundern, den erbarmungslosen Perspektiven der Wirklichkeit mit revolutionären oder reaktionären Argumenten zu entzeihen suchte. Der verratene und verkaufte Begriff der bildnerischen Wahrheit ist von Dix unmittebar, in direktem Kontakt mit Erlebnis und Erfahrung, rehabilitiert worden.
Die hautnahe Beziehung zu den Dingen, die elementare Lust an körperhafter Substanz, am physiognomischen Detail, am szenischen Ereignis gehören zu einer künstlerischen Mitteilung, die nicht auf neutrale Distanz, sondern auf aktive Stellungnahme abzielt. Dix hat Tod und Verzweiflung, die letzten Positionen menschlicher Existenz, in der Hölle der Schützengräben und in den Niederungen der Korruption und Prostitution mit der Macht einer irdischen Heimsuchung erfahren. Das konnte nicht Rückzug vom Objekt bewirken: der Gegenstand geriet zu einer bildnerischen Hieroglyphe, deren 'scharfe, sichere Gegenwart' (Goethe über Mantegna) die Verfassung des Malers, den Befund der Zeit, den Zustand des Individuums kündete, das überlebt hatte und seine neuen Freiheiten mit alten Fatalitäten korrumpierte." (Hans Kinkel, Die Toten und die Nackten, Beiträge zu Dix, Berlin 1991, S. 20).

Catalogue Raisonné

Pfäffle A 1923/43

Provenance

Galerie Nierendorf, Köln; um 1926-1928 erworben, seitdem in Familienbesitz

Literature

Brigid S. Barton, Otto Dix and Die neue Sachlichkeit 1918-1925, Michigan 1981, S. 145, VI B 57