Ernst Ludwig Kirchner
Skizzenbuch
1921-1923/1925
Schwarzes Wachstuchheft 21,6 x 17,6 cm 90 Blättern bzw. 180 Seiten
"Das 1996 erschienene Werkverzeichnis der Skizzenbücher von Ernst Ludwig Kirchner umfasst 180 Positionen. Seither wurde kein weiteres Exemplar registriert. Jetzt, nach zwölf Jahren, liegt ein in Umfang und Qualität herausragender Fund vor: Ein Skizzenbuch mit fast 100 Skizzen und einem handschriftlichen Eintrag. Kirchners 181 Skizzenbücher sind nahezu alle in Museumsbesitz. Das macht dieses aus Privatbesitz stammende Exemplar zu einer Rarität."
Die zahlreichen Zeichnungen des Heftes, die zwischen 1921 und 1923/25 entstanden sind, finden teilweise im Werk Kirchners motivliche Entsprechungen, sei es zu bestimmten Landschaftsgemälden, zu Radierungen, zu anderen zeichnerischen Skizzierungen und auch Fotoaufnahmen des Künstlers. Unter den porträthaften Personendarstellungen sind in einem Blatt höchstwahrscheinlich Erna Schilling dargestellt, in einem anderen die Frau von Albert Müller mit den Kindern Judith und Caspar.
Wie Presler schreibt, benutzte Kirchner das Skizzenbuch "um seinen unmittelbaren schöpferischen Alltag künstlerisch zu verdichten: Menschen im Café und auf der Straße, Arbeiter beim Befestigen eines Abhanges unterhalb des Hauses auf dem Wildboden, das er 1923 bezogen hatte. Er beobachtet den Alltag der Bergbauern, den er auch in zwei großen Gemälden (Gordon 734, 735, 1923-1924) gestaltete. Eines hängt heute im Kabinettssaal der Bundesregierung in Berlin. Er skizziert Menschen beim Tanz, im Gespräch, Tiere, Bäume in ihrem bizarren Wuchs. Das geschah in Formen, die er als 'Hieroglyphen' bezeichnete. Das Skizzenbuch ist der Ort, an dem diese hieroglyphische Struktur der Wirklichkeit gefunden wird.
Bei Ernst Ludwig Kirchner sollte man auf eine Besonderheit achten: anders als die Gemälde, Zeichnungen und druckgraphischen Arbeiten sind die Skizzenbücher nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie blieben jener Bereich, in welchem der Künstler seine einsamsten und zugleich aufregendsten Stunden verbrachte. 'Geboren in der Ekstase des ersten Sehens.' So kennzeichnete Kirchner die erste Begegnung mit dem Bildgegenstand, ein Erleben, das er mit niemandem teilt. Im Skizzenbuch ist er frei. Er beachtet kein Gesetz, das andere schrieben, keine Forderung, die der Markt oder der Kompromiss formulierten. Hier muss er nicht auf Wünsche eingehen, auf Erfahrungen mit dem Publikum, den Sammlern und Galeristen. Im Skizzenbuch ist der Künstler ganz er selbst.
Kirchner skizzierte, 'wo er ging und stand.' Er liebte die Schnelligkeit, die Dynamik, die Energie, die Spannung, die sich auf einem Skizzenbuchblatt zusammenballten und die er in dieser Dichte mit keinem anderen Medium erzielen konnte. 'Was habe ich mich geschunden, das bewusst zu vollenden auf der Leinwand, was ich ohne Mühe in Trance auf der Skizze ohne weiteres hingeworfen hatte.'
Für Kirchner besitzt das Skizzenbuch eine eigene schöpferische Wertigkeit, ein eigenes Profil. Es dient nicht. Es geht vielmehr im gestalterischen Prozess voran und ermöglicht das Weiterarbeiten im Gemälde, in der Zeichnung und im druckgraphischen Blatt." (Gerd Presler in seinem Gutachten vom 18. April 2008)
Der in diesem neu entdeckten Skizzenbuch enthaltene Text mag, nach einem Vorschlag Preslers, möglicherweise als Brief und Anrede dem Maler Otto Mueller bestimmt gewesen sein, dem einzigen Künstler aus dem ehemaligen "Brücke"-Umkreis, dem Kirchner seine persönliche Wertschätzung nie entzog.
Provenance
ehemals Privatsammlung Berlin, dann Basel (ca. 1950); Privatsammlung Schweiz, jetzt Frankreich
Wir dürfen wie folgt aus dem Gutachten zitieren: