Wilhelm Lehmbruck - Kleiner weiblicher Torso, sog. Hagener Torso - image-1

Lot 745 Dα

Wilhelm Lehmbruck - Kleiner weiblicher Torso, sog. Hagener Torso

Auction 842 - overview Köln
28.05.2003, 10:30 - Moderne Kunst
Estimate: 80.000 € - 100.000 €
Result: 94.400 € (incl. premium)

Steinguß, schwarzgrau getönt. Höhe 70 cm. Rückseitig am Sockel in der Form signiert LEHMBRUCK. - Unter der Standfläche mit einem aufgeklebten alten Ausstellungsaufkleber mit Aufdruck "Kunstpalast Düsseldorf", darauf zusätzlich auf kleinerem, hellen Papieretikett handschriftlich bezeichnet "C. 328 Lehmbruck"; auf einem weiteren Papierfragment mit Tinte alt beschriftet "Katalog Nummer 1548 [die Ziffer rot]/Kleiner weibl. Torso/von W. Lehmbruck/verkauft an/Herrn Friedhelm Haniel/Düsseldorf/Go(...)str. 2". - Fachmännisch restaurierter Kopfbruch.
Schubert 56/23

Der vorliegende dunkle Steinguß wurde aus der Ausstellung des Kunstpalastes Düsseldorf im Mai 1920 in die Sammlung Haniel verkauft. Die spezifische Gußhaut und Patina weisen das Stück als alten, höchstwahrscheinlich noch zu Lebzeiten entstandenen Guß aus.
Der namensgebende Steinguß aus der Sammlung von Karl Ernst Osthaus, Hagen, befindet sich heute im Museum Folkwang, Essen. Weitere Steingüsse unterschiedlicher Tönung (ocker, rötlich, grau-grün, blaugrau) sind in den Museumssammlungen von Dresden, Bonn, Düren, Düsseldorf, Hamburg überliefert sowie in den Museen in Richmond, Liechtenstein, Bristol, Prag und Zürich. Die auf der Sonderbundausstellung in Köln 1912 ausgestellte Fassung in Marmor, zunächst von Paul Cassirer an den Kunstverein Köln vermittelt, kam noch vor 1918 in die Sammlung von der Heydt und 1951 in das Museum in Wuppertal. Bronzegüsse der Figur zu Lebzeiten gab es nur sehr wenige, eine 1912 erstmals ausgestellte Bronze heute in Magdeburg (Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen) und eine zweite in der Kunsthalle Mannheim (Stiftung von Sally Falk 1917).
Der selbständige Torso als bewußte Formbildung des Künstlers ist ein seit Rodin historisch gewordenes und bekanntes Phänomen in der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts. Lehmbruck blieb in Paris von den Entwicklungen nicht unberührt. Seine Schnitte an der Figur sind formal sehr augenfällig, die Armstümpfe sind z.B. deutlich kürzer als bei der tradierten üblichen Oberarmlänge klassischer Karyatiden. Im Oberschenkelbereich stehen die rohen Beinstümpfe mit ihrer unebenen Oberfläche dem Betrachter entgegen. Die ruhige, breite Lagerung der Gesamtgestalt jedoch, mit ihrer gerundeten Körperlichkeit, vor allem aber der gelängte, geneigte Kopf mit den geschlossenen Lidern, beeindrucken optisch stärker als die gewagte fragmentierte Form. Im Unterschied zu Rodins Figur der "Voix Intérieure" vom Victor-Hugo-Denkmal, die inhaltlich eine ähnliche Dimension des Nach-Innen-Gekehrten vermittelt, entwickelt Lehmbruck andere plastische Mittel des Aufbaus der Figur. Tektonik und Geschlossenheit der Form wird neu empfunden und im Zusammenhang mit der Konzeption des Torsos war dies nach Rodin etwas völlig Neues. Gepaart mit dem empfindsamen Ausdruckswert, Resultat einer als "Verwesentlichung" (August Hoff) umschriebenen Darstellung der menschlichen Gestalt, führte es zur Abstrahierung und Vernachlässigung jedes naturalistischen Details. Die Entwicklung des Torsos in diesem Sinne hatte wenig gemein mit dem "'schon' und 'noch nicht ganz'" einer Skizze bzw. dem "'noch' und 'nicht mehr ganz'" eines überlieferten echten Fragmentes, das der romantischen Phantasie Spielräume der Interpretation überließe (J.A. Schmoll gen. Eisenwerth). Lehmbruck führt den Beschauer zwingend auf die Betrachtung der Gestalt an sich zurück, die keines Zusatzes bedarf, und die dennoch ihren expressiven Charakter behauptet.

Catalogue Raisonné

23 Schubert

Provenance

Friedhelm Haniel, Düsseldorf; Rheinischer Privatbesitz

Literature

August Hoff, Wilhelm Lehmbruck, Leben und Werk, Berlin 1961, mit Abb. S. 68/69; Dietrich Schubert, Die Kunst Lehmbrucks, Worms 1981, Nr. 116 mit Abb. Tafel 72, vgl. S. 141; ders., Die Kunst Lehmbrucks, Dresden 1990, S. 151 mit Farbtafel V

Exhibitions

vgl. Paris 1911 (9. Salon d'Automne), No. 913; Hagen (April 1912), Museum Folkwang; Berlin November 1912 (25. Ausstellung der Secession Berlin (s. Deutsche Kunst und Dekoration 31, 1912, S. 458 mit Abb.); Köln 1912 (Sonderbund), No. 600 (Marmor); Köln 1916 (Kölnischer Kunstverein) Febr./März, No. 54 (Bronze); Berlin, Februar 1920 (Galerie Paul Cassirer); Düsseldorf 1920 (Galerie Alfred Flechtheim); Düsseldorf 1920 (Kunstpalast), Große Kunstausstellung, Kat. Nr. 1548 (das vorliegende Exemplar); Köln 1993 (Galerie Michael Werner Köln), Wilhelm Lehmbruck, Nr. 3 (heller Steinguß, Slg. Kurt H. Grunebaum, N.Y.), Nr. 4 (Marmor, Von der Heydt-Museum, Wuppertal); Bremen/Berlin/Duisburg/Mannheim 2000 (Gerhard Marcks-Stiftung/Georg-Kolbe-Museum/Wilhelm Lehmbruck Museum/Städtische Kunsthalle Mannheim), Wilhelm Lehmbruck, Kat. Nr. 11a (heller Steinguß - ehemals Slg. Grunebaum), Kat. Nr. 11b (Bronze, Magdeburg); Kat. Nr. 11c (Marmor, Wuppertal), Kat. Nr. 11d (postumer Gips, bräunlich getönt), vgl. Farbabbn. S. 74-77