Abraham Roentgen — Begründer der tonangebenden Möbel-Manufaktur Deutschlands im 18. Jahrhundert
Im 18. Jahrhundert wurde in Europa in der Möbelkunst eine nie wieder erreichte Palette an qualitätvollen und einzigartigen Möbeln produziert, die auch heute noch ihresgleichen sucht. Nach wie vor werden diese Einrichtungsstücke hochgeschätzt. Die großen und berühmten Produktionsstätten von Luxusgütern waren damals in London und vor allem in Paris angesiedelt. Da wundert es umso mehr, dass in dem kleinen Ort Neuwied am Mittelrhein eine Werkstatt, oder besser gesagt die Manufaktur Roentgen, Möbel der Luxusklasse fertigen und in ganz Europa vertreiben konnte. Es ist anzunehmen, dass der Betrieb ca. 2000 Objekte produzierte und vorrangig an den europäischen Adel lieferte.
Hinter dieser Erfolgsgeschichte stehen zwei Persönlichkeiten — Abraham (1711–1793) und David Roentgen (1743–1803), die, obwohl Vater und Sohn, in vollends unterschiedlichen Lebensumständen ihre Prägung erfuhren. Die Basis für den Erfolg allerdings legte Abraham Roentgen. Er wurde in Mülheim als Sohn des protestantischen Tischlers Gottlieb Roentgen (1675/1680– 1751) geboren. Mülheim, heute ein rechtsrheinischer Stadtteil Kölns, gehörte damals zum protestantischen Herzogtum Berg und war, ausgestattet mit den Rechten einer Freiheit, ein Ort freier Religionsausübung. Nach der Lehre im väterlichen Betrieb ging Abraham Roentgen 1731 auf Wanderschaft, erst durch die Niederlande und dann weiter nach London, wo er 1733 eintraf. Dort lernte er Arbeits- und Organisationsmethoden kennen, die für einen aus Deutschland stammenden zünftigen Handwerker ungewöhnlich waren. Seit dem Großen Brand von 1666 war in London die Zunft abgeschafft.
Die Trennung der Gewerke war damit aufgehoben. Es wurde arbeitsteilig produziert, die Zahl der Mitarbeiter war nicht begrenzt, Werbung war erlaubt und es gab Unternehmer, die vom Rohmaterial Holz bis zum Verkauf Möbel aus einer Hand anboten. Die großen Betriebe arbeiteten mit Zulieferbetrieben der verschiedensten Gewerke oder auch mit sogenannten working master zusammen, die allein tätig waren. So konnten große Stückzahlen für eine fiktive Kundschaft produziert oder große Aufträge erfüllt werden. Abraham Roentgen lernte neben diesen Organisationsweisen auch neue Arbeitstechniken kennen. Besonders in der Ausführung von Einlegearbeiten in Elfenbein, Perlmutt, Messing und Holz mit feinen Gravuren, prächtigen Schnitzarbeiten und aufwendiger Mechanik der Möbel erwarb er sich einen so guten Ruf, dass er von den „geschicktesten Cabinetmachern gesucht […] wurde“.
Neben den Techniken übernahm Abraham Roentgen auch die stilistischen Eigenheiten des englischen Möbels in sein Repertoire. So finden sich an seinen Möbeln typisch englische Stilelemente wie die cock bead-Leisten (Lippränder) an den Schubladen, pigeon holes (Brieffächer) oder tief herabgezogene Zargen (kettle bottom-Form). Auch in der Gestaltung der Möbelfüße übernahm er englische Vorbilder, so den claw and ball foot, den club foot, den pad foot oder den bracket foot. In England beliebte Möbeltypen wie der harlequin table, der tripod table und die tea chests gehörten künftig zu seiner Produktpalette.
In London lernte Abraham Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700– 1760) kennen, den Gründer der Herrnhuter Brüdergemeinde. Die Ideen dieser evangelisch-pietistischen Freikirche überzeugten ihn so, dass er sich ihr 1738 anschloss. Die Brüder-Unität war bestrebt, streng nach den Lehren Christi in dessen Nachfolge zu leben. Für sie galt Jesus, „der barmherzige König in Israel“, als geistig gegenwärtig. Alle wichtigen Entscheidungen wurden per Los entschieden, in der Vorstellung, dass sich darin die „Anweisung von unserem Herrn“ zu erkennen gäbe.
Die Grundfesten ihrer Gemeinschaft waren brüderliche Liebe, gegenseitige Unterordnung, Bescheidenheit, ein Leben mit- und füreinander und die Hinwendung auf das Jenseits. Man verstand sich nicht nur als religiöse Vereinigung, sondern auch der Alltag wurde organisiert. Ziel war eine eigenständige, möglichst unabhängige soziale und wirtschaftliche Gemeinschaft. So galt die Sorge nicht nur dem Seelenheil der Brüder und Schwestern, sondern auch ihrem Auskommen in Krankheit und Alter. Der „Gemein-Credit“ war nicht nur die Genossenschaftsbank der Gemeinschaft, sondern auch gleichzeitig die Alters- und Krankenversicherung der Mitglieder. Das Leben war streng reglementiert. Mädchen, Jungen, Ledige, Verheiratete und Verwitwete lebten getrennt in verschiedenen Chorhäusern. In diesen waren auch die entsprechenden Schul- und Arbeitsstätten untergebracht.
Der Lebensentwurf der Herrnhuter widersprach in vielem dem des absolutistischen 18. Jahrhundert. So bedurfte es eines aufgeschlossenen Landesherrn, dieser Glaubensgemeinschaft Siedlungsraum zu geben. Bedingt durch die Gefahr, jederzeit des Landes verwiesen zu werden, investierten die Mitglieder ihr Kapital nicht in Immobilien, sondern unterstützten sich untereinander mit Krediten, deren Rückzahlung Gewinne einbrachten. Ein wichtiges Prinzip Herrnhuter Philosophie ist, dass alle Produkte in hervorragender Qualität und in den besten Materialien zu fertigen sind. Damit ist auch die exzellente Qualität der Roentgenmöbel zu erklären. Billige Hölzer oder Materialien wie auch schlechte Verarbeitung sind an ihnen nicht zu finden. Auch 72 ist nach Herrnhuter Vorstellung für die Ware ein gerechter Preis zu verlangen, der nicht verhandelbar ist. So ließ sich die Manufaktur Roentgen auf ein Feilschen um den Preis nicht ein.
1739 heiratete Abraham Roentgen die Frankfurter Herrnhuterin Susanna Maria Bausch (1717– 1776). Die Auswahl des Ehepartners war per Losentscheid erfolgt. 1741 gründete er in der Brüdergemeine Herrnhaag bei Büdingen seine erste kleine Schreinerwerkstatt. Er fertigte Aufträge für den im Umkreis lebenden Adel. Sie sind stilistisch eng an englische Vorbilder angelehnt und häufig mit fein gravierten Messing-, Perlmutt- oder Elfenbeineinlagen verziert. Statt des in England bevorzugten, in Deutschland jedoch kostspieligen Mahagonis verwendete er Kirsch-, Eichen- oder Nussbaumholz.
1750 siedelte die mittlerweile auf neun Personen angewachsene Familie Roentgen mit 33 Mitgliedern der Gemeine nach Neuwied am Rhein über und gründete dort erneut eine Werkstatt. Graf Friedrich Alexander zu Wied-Neuwied (1706–1791) nahm die aus Herrnhaag ausgewiesenen Herrnhuter in seiner Residenzstadt auf. Es entstand das Herrnhuter Viertel mit zwei Häuserkarrees und einem zentralen Kirchensaal, das auch heute noch in seinen Grundzügen im Neuwieder Stadtbild existiert. In Neuwied nahm die Werkstatt Abraham Roentgens Aufschwung und es gelang ihm, sie zu einer Manufaktur auszubauen, die in Größe und Organisation Londoner Betrieben gleich kam. 1764 weigerte er sich zunächst, das ihm angebotene Neuwieder Bürgerrecht anzunehmen. Es hätte bedeutet, dass er gezwungen gewesen wäre, der Tischlerzunft beizutreten und damit seinen Betrieb erheblich zu verkleinern und dessen Organisation englischer Prägung aufzugeben. Nachdem der Graf ihn von der Pflicht zum Zunftbeitritt befreit hatte, nahm er das Bürgerrecht an. Der Kundenkreis der Manufaktur erweiterte sich zusehends und sie hatte neben dem Grafen zu Wied-Neuwied Kunden aus den vornehmsten und finanzkräftigsten Kreisen. Abraham Roentgen ging auch aktiv auf Kundenakquise und bot auf der zweimal jährlich stattfindenden Frankfurter Messe seine Waren zum Verkauf an. In Werbeanzeigen bezeichnete er sich als „Englischer Cabinett-Macher“, der „sowohl nach dem Französischen als Englischen Gout“ arbeite.
Die Möbel der Manufaktur Roentgen waren gekennzeichnet durch höchste Qualität und technischer Raffinesse. Die Marketerien aus Rautenmosaik, Blumenarrangements oder figürlichen Szenen nach Vorlagen von Künstlern wie Nicolas van Berchem (1620–1683) und Januarius Zick (1730–1797) zeigen den hohen Standard der Oberflächendekorationen. Das Innere dieser Möbel ist häufig nicht weniger spektakulär und stellt ein regelrechtes mechanisches Wunderwerk dar. Da nicht nur nach Auftrag, sondern auch für einen fiktiven Markt produziert wurde, bedurfte es zu ihrer Herstellung teurer Investitionen, was Material bester Qualität, Löhne und Ausgaben für Zulieferbetriebe anging. Dieses Geld musste erwirtschaftet werden. In den unsicheren Zeiten des Siebenjährigen Krieg (1756–1763) stellte dies eine schwierige Aufgabe dar. So traten in den 1760er Jahren finanzielle Probleme auf.
Zu den hohen Produktionskosten belasteten der Bau des eigenen Hauses in der Pfarrstraße in Neuwied und die Rückzahlung von Krediten, die der „Gemein-Credit“ gewährte, die Liquidität des Betriebes. Das Möbellager war mehr als gefüllt und der Bankrott schien unausweichlich, sodass die Brüder-Unität wünschte, die Familie Roentgen möge Neuwied verlassen. Gemäß den Maximen der Herrnhuter war Erfolg ein Zeichen für „Gottes Segen“, ein Bankrott hingegen warf schnell Fragen nach Verfehlungen auf. In dieser Situation trat der älteste Sohn der Familie, David, tatkräftig in Erscheinung. 1743 in Herrnhaag geboren, wurde er gemäß Herrnhuter Prinzipien erzogen, die auf die Ausbildung ihrer Kinder ein besonderes Augenmerk legten. Hierzu gehörte der Unterricht in Kunst, Wissenschaften, humanistischen Lehren und Sprachen wie Französisch. Damit erhielten Herrnhuter Kinder eine weitaus bessere Bildung als die anderer Bürgerlicher.
Mit sechs Jahren wurde David in die Schulen von Marienborn, Lindheim und Niesky geschickt. Dieses Rüstzeug versetzte ihn in der Lage, sich sicher in adeligen Kreisen zu bewegen, wo eine Kenntnis des Französischen, von mythologischen Szenen und Symbolen unerlässlich war. Seine Ausbildung zum Schreiner begann er vermutlich im Alter von zehn Jahren im elterlichen Betrieb. Anders als sein Vater Abraham hat er nie nach zünftigen Methoden gearbeitet, sondern hat seine Lehre im Geiste eines modernen, arbeitsteiligen, freien Unternehmertums absolviert. Dieser Umstand muss berücksichtigt werden, um den Unterschied im unternehmerischen Handeln zwischen Vater und Sohn zu verstehen. So plante er 1767 um die Manufaktur zu retten, sehr zum Missfallen der Brüder-Unität eine Lotterie in Hamburg zu veranstalten, in der der Lagerbestand verlost werden sollte. Die wurde am 22. Mai 1769 durchgeführt. Um diese Unternehmung zum Erfolg zu führen, setzte er gezielt Werbung ein. Er verfasste eine Liste mit 100 Preisen und reiste durch die Lande, um Teile der zu verlosenden Möbel zu präsentieren. 700 Lose zu drei Dukaten wurden angeboten und verkauft. Die Lotterie war ein Erfolg und der Betrieb war finanziell saniert.
Anders als häufig angenommen, war allerdings nicht erst die Lotterie der Grund für den Ausschluss Davids aus der Brüder-Unität. Schon mit Brief vom 16.8.1767 wird dem Unitäts-Syndikats-Kollegium in Herrnhut aus Neuwied berichtet, dass „der Älteste (David Roentgen) in keinem Katalog (Verzeichnis der Gemeindemitglieder) mehr geführt [wird]“. Die Entscheidung war durch Los getroffen worden. David war der Gemeine schon länger „ein Dorn im Auge“ gewesen; so wurde dem Unitäts-Syndikats-Kollegium in Herrnhut bereits am 23.4.1767 mitgeteilt: „Wir haben eine Familie hier, Abraham Röntgens, die haben drei Sohne hier, lauter schlechte Kinder. Der Älteste, der das ganze Haus dirigiert, ein Bösewicht.“
Um seinen ebenfalls drohenden Ausschluss aus der Gemeine abzuwehren, übertrug Abraham Roentgen Ende 1773 seinem ältesten Sohn David einen Teil des Betriebes. Diesen führte David in seinem 1774 gegenüber dem Elternhaus außerhalb der Häuserkarrees der Brüder-Unität neu errichteten Haus weiter. Wie Hans-Jürgen Krüger nachweisen konnte, bestanden in Neuwied deshalb zeitweise zwei Roentgen-Manufakturen nebeneinander. Abraham war „von Ende 1773 bis 1775 mit seinem Betrieb der Zulieferer für David“, oder besser gesagt, weil er auch eigene Möbel herstellte, der „Leiter eines Zweigbetriebes“. Im Laufe des Jahres 1775 gab Abraham Roentgen die Leitung seines Betriebes auf. Bis 1784 war er noch in der Manufaktur seines Sohnes David aktiv, die dieser zu einer europaweit agierenden Fabrique ausbaute.
Das 1772 von Johannes Juncker (1751–1817) angefertigte Porträt von Abraham Roentgen in bürgerlicher Tracht zeigt ihn mit einem Vorlagenblatt in seiner linken Hand. Hierauf sind Bronzebeschläge in dem damals modernen klassizistischen Stil dargestellt und am linken Rand des Gemäldes sind Zirkel und Schreibfeder zu sehen. Hier präsentiert sich Abraham Roentgen in seiner Profession als aktiver Kunsttischler, als Ebéniste à la mode.
Autor: Dr. Ursula Weber-Woelk
Dr. Ursula Weber-Woelk
2006–2007 Ausstellungskuration am Roentgen-Museum Neuwied – „Edle Möbel für höchste Kreise – Roentgens Meisterwerke für Europas Höfe“.
2007–2009 Mitherausgeberin von „David Roentgen – Möbelkunst und Marketing im 18. Jahrhundert“.
2011–2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Stadtmuseum Simeonstift Trier: Forschungsauftrag zum Trierer Möbel.
Seit 2013 Lehrbeauftragte der TH Köln, Lehrbereich allgemeine Kunstgeschichte und Kunstgeschichte des Möbels für angehende Möbelrestauratoren.
Literatur
Stiegel, Achim: Präzision und Hingabe. Möbelkunst von Abraham und David Roentgen. Exhib. cat. Kunstgewerbemuseum, Staatliche Museen zu Berlin. Berlin 2007.
Büttner, Andreas & Ursula Weber-Woelk ed.: David Roentgen. Möbelkunst und Marketing im 18. Jahrhundert. Regensburg 2009.
Fabian, Dietrich: Roentgenmöbel aus Neuwied. Leben und Werk von Abraham und David Roentgen. Bad Neustadt 1986.
Fabian, Dietrich: Abraham und David Roentgen. Das noch aufgefundene Gesamtwerk ihrer Möbel und Uhrenkunst in Verbindung mit der Uhrmacherfamilie Kinzing in Neuwied. Bad Neustadt/ Saale 1996.
Büttner, Andreas & Bernd Willscheid ed.: „… Nützlich zu sein und Gutes zu stiften …“ Roentgen-Möbel für das Gartenreich Wörlitz – Dessau und Neuwied als Vorreiter der Aufklärung. Exhib. cat. Kreismuseum Neuwied & Haus der Fürstin, Wörlitz. Neuwied 2006.
Büttner, Andreas, Ursula Weber-Woelk & Bernd Willscheid ed.: Edle Möbel für höchste Kreis. Roentgens Meisterwerke für Europas Höfe. Exhib. cat. Roentgen-Museum Neuwied. Neuwied 2007.
Willscheid, Bernd & Wolfgang Thillmann ed.: Möbel Design- Roentgen, Thonet und die Moderne. Exhib. cat. Roentgen-Museum Neuwied. Berlin 2011.
Koeppe, Wolfram ed.: Extravagant Inventions. The princely Furniture of the Roentgens. Exhib. cat. The Metropolitan Museum of Art, New York. New Haven & London 2012.
Röntgen, Ludwig: Das erste Buch meines Lebens. Rotterdam 1845.