„Die delikatesten Feinheiten des Lichtspiels“. Zur Photographie Heinrich Kühns

„Unter Photographie versteht man eine in lückenlos ineinanderfließenden Tönen ausgedrückte bildliche Darstellung, hervorgerufen oder vermittelt durch die Wirkungen des Lichts.“

„Unter Photographie versteht man eine in lückenlos ineinanderfließenden Tönen ausgedrückte bildliche Darstellung, hervorgerufen oder vermittelt durch die Wirkungen des Lichts.“¹ Mit dieser Äußerung, publiziert 1921 in seinem Lehrbuch „Technik der Lichtbildnerei“, fasste Heinrich Kühn seine photographischen Zielsetzungen selbst prägnant zusammen. Als einer der Protagonisten und Vorreiter der internationalen Kunstphotographie arbeitete er daran, das photographische Medium in den Rang der bildenden Künste zu erheben. Orientierte er sich dabei formal wie thematisch an der Ästhetik der zeitgenössischen Malerei und Grafik, so war es sein zentrales Anliegen, dass die Photographie mit den ihr eigenen Mitteln zu arbeiten, d.h. das Bild sich aus dem gezielten Zusammenwirken des Lichts mit den photochemischen Substanzen zu entwickeln habe. Damit distanzierte er sich von der unter den kunstphotographischen Amateuren weit verbreiteten Praxis der massiven, mit Pinsel und Pigmenten nachträglich vorgenommenen Manipulationen des photographischen Bildes, die er als „Bromölorgien“ ablehnte. Während seiner gesamten, etwa ein halbes Jahrhundert währenden Laufbahn widmete sich Kühn mit bemerkenswerter Präzision und ungeheurem Perfektionismus der Verbesserung und Weiterentwicklung der photographischen Verfahren und Drucktechniken.

Die Besonderheit und Qualität der in diesem Katalog zum Aufruf kommenden Sammlung aus süddeutschem Privatbesitz besteht unter anderem darin, dass sie diese Bemühungen eindrücklich zu illustrieren vermag. Sie bildet Kühns photographisches Schaffen insofern nahezu exemplarisch ab, als dass sich in ihr fast sämtliche der drucktechnischen Verfahren finden, derer er sich im Laufe der Jahre bediente: Von den großformatigen, flächig und vergleichsweise schwer wirkenden Gummidrucken der Jahrhundertwende über die beiden von ihm selbst entwickelten und ausschließlich von ihm genutzten Verfahren des Platingummidrucks und der Gummigravüre, die Photogravüre und den Öldruck bis hin zu den vor allem in späteren Jahren von ihm favorisierten Ölumdrucken, die sich durch eine außerordentliche Leichtigkeit und Feinheit der Darstellung auszeichnen.² Darüber hinaus besticht das hier vorliegende Konvolut dadurch, dass es viele der wichtigsten Motive Heinrich Kühns enthält, die in zeitgenössischen Publikationen ebenso wie in jüngeren monographischen Darstellungen vielfach veröffentlicht wurden. Mit Stillleben, Portrait, Akt- und Landschaftsdarstellungen umfasst sie zudem auch auf inhaltlicher Ebene das komplette Spektrum seines Werkes.

Frühe Gummidrucke

Die zwei frühesten Arbeiten der Sammlung, die Holländerin mit Haube [Lot 200] von 1897 und die zeitnah entstandene Alte Holländerin [Lot 201] datieren in jene Jahre, in denen sich Heinrich Kühn intensiv mit dem Gummidruck beschäftigte. Das Verfahren kam Kühns künstlerisch-photographischer Auffassung insofern entgegen, als dass sich beim Gummidruck rein technisch bedingt jede scharf gezeichnete Kontur auflöst und somit die von den Piktorialisten als „unkünstlerisch“ empfundene Detailgenauigkeit der konventionellen Photographie vermieden wird. „Die scharfe photographische Aufnahme zählt ja gewöhnlich viel zu viele Details gleichwertig auf und erschwert dadurch die bildmäßig nötige Unterordnung des Gleichgültigen unter das Wichtige und Bedeutende“³, so formulierte Kühn es in seiner „Technik der Lichtbildnerei“. Liefern die sich im Licht schwärzenden Silbersalze des Gelatinesilberabzugs ein präzise durchgezeichnetes Bild des Dargestellten, so ergeben die in der lichtsensiblen Schicht des Gummidrucks eingebetteten Farbpigmente einen Umriss mit leicht unscharfem Verlauf. Die naturalistische Darstellung weicht in beiden Portraits großflächig angelegten, fast graphisch wirkenden Kompositionen, bei denen auf die Schilderung von Details etwa der Kleidung verzichtet und stattdessen ganz auf die „bildmäßige“ Wirkung der sorgfältig angelegten, die Bildfläche strukturierenden Hell-Dunkel-Partien gesetzt wird. Verstärkt wird die durch Reduktion und Kontrast erreichte, visuelle Kraft der Bilder durch das für den Gummidruck charakteristische, große Format, in dem Kühn einen weiteren Vorzug dieses Verfahrens sah: „Die für die Photographie erlösende Tat war die Einführung des Gummidrucks. Durch großzügigen Vortrag, dekorative Kraft und schließlich […] ein herausforderndes Format [...] wurde die Wand erobert, und für die Folge der künstlerischen Photographie ein für allemal die Eignung zuerkannt, von den Wänden herab sprechen zu dürfen.“⁴

Lassen einen die beiden Darstellungen stilistisch wie inhaltlich zunächst an die Portraits niederländischer Altmeister des 17. Jahrhunderts denken – ein Eindruck, der dadurch verstärkt wird, dass Kühn die beiden hier vorliegenden Gummidrucke mit einem feinen Firniss überzog – so dürften seine unmittelbaren Vorbilder die Gemälde Max Liebermanns zum gleichen Thema gewesen sein, die dieser während seiner Aufenthalte in Holland in den 1870er/1880er Jahren geschaffen hatte (vgl. Abb. 1). Für den Maler wie für den Photographen lag der Reiz des Motivs der in landestypische Tracht gewandeten Holländerinnen im Kontrast des hellen Weiß ihrer Hauben zu ihren dunklen Kleidern, der die Darstellungen beider dominiert. Auf Kühns Nähe zu Werken Liebermanns und anderer Mitglieder aus dem Umkreis der Münchner Secession ist vielfach hingewiesen worden,⁵ Kühn selbst hat sie nicht geleugnet. Gemeinsam mit seinen Mitstreitern und Photographenkollegen Hans Watzek und Hugo Henneberg unternahm er ausgedehnte Studienreisen zu Orten, die auch von den zeitgenössischen Malern frequentiert wurden, darunter den von Liebermann geschätzten und von Kühn erstmals 1897 aufgesuchten, holländischen Küstenort Katwijk. Weitere Ziele waren Worspwede, Dachau und Venedig [Lot 202].

Ausgebildet als Mediziner, interessierten ihn jene Wahrnehmungstheorien, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Entwicklung der Malerei maßgeblich geprägt hatten, allen voran die Untersuchungen des Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz zur Physiognomie des Auges. In seiner Theorie thematisiert Helmholtz die Differenz zwischen der Wahrnehmung des menschlichen Sehens und der photographischen Optik, die u.a. darin besteht, dass der Sehvorgang ein aktiver, selektiver ist, bei dem wir uns jeweils auf wenige Details konzentrieren, das Objektiv der Kamera hingegen die vor ihm befindlichen Gegenstände mit gleichmäßiger Detailgenauigkeit erfasst. Diesen Gedanken greift Kühn explizit auf, wenn er in einem seiner zahlreichen Aufsätze schreibt, dass „das betrachtende, schauende Auge […] die vielen Einzelheiten in der Natur kaum wahr[nimmt], die das gut korrigierte Objektiv in der Einstellebene mit aufdringlicher Schärfe abbildet.“⁷ Worum es Kühn also ging, wenn er zu Weichzeichner-Linsen, Papieren mit rauherer Oberfläche und Druckverfahren griff, die das Motiv verunklärten, war die korrekte „Übersetzung“ der subjektiven, momentanen menschlichen Wahrnehmung in das photographische Bild.

Die Kunst der Tonwerte

In diesem Zusammenhang geriet neben der zu großen Bildschärfe des Aufnahmeapparates zunehmend ein weiterer Nachteil des photographischen Materials in den Fokus der Aufmerksamkeit Kühns, und zwar die in seinen Augen ungenügende Wiedergabe der „Tonwerte“. Bis zu seinem Lebensende sollten seine Anstrengungen nun vor allem dem Ziel gelten, dieser Problematik mittels verfeinerter photographischer Verfahren beizukommen. Dies zog auf technischer wie auf stilistischer Ebene einen deutlichen Wandel in seinem Schaffen nach sich, wie die Aufnahme Holländerinnen in der Düne [Lot 204] zeigt, die nur wenige Jahre nach den beiden genannten Arbeiten 1904 bei einem weiteren Aufenthalt in Katwijk entstand. Die Flächigkeit der frühen Gummidrucke ist einer deutlich feineren Nuancierung der Tonwerte gewichen. Zwar liegt ein Akzent auch dieser Aufnahme auf dem Kontrast zwischen den im Sonnenlicht hell aufleuchtenden Kopfbedeckungen der Frauen mit ihren tiefdunklen Röcken, doch besticht das Motiv vor allem durch die bemerkenswerte Feinheit der dazwischen liegenden Grautöne, die ihren Höhepunkt in der Darstellung der zierlichen Gräser des Strandhafers findet. Liegen die Holländerinnen in der Düne hier auch als deutlich später entstandener Ölumdruck vor, so zeigt ein Vergleich unseres Blattes mit frühen Ausführungen der Aufnahme als Platindruck, dass die verfeinerten Abstufungen der Hell-Dunkel-Werte auch dort im Mittelpunkt des Bildinteresses standen.

Im Freien und in der Bewegung aufgenommen, erscheint die Darstellung der Frauen in den Dünen deutlich lebendiger und – obgleich Kühn die Komposition und ihre Wirkung vorab durchaus genau kalkuliert hat – ungezwungener als die ihrer früher portraitierten Landsmänninnen. Nach Monika Faber ist diese veränderte Auffassung dem Einfluss der US-amerikanischen Kollegen geschuldet, namentlich Gertrude Käsebiers, deren Werke Kühn aufgrund ihrer Spontaneität und Leichtigkeit der Darstellung bewunderte.⁸ Über das Schaffen der Kollegen auf dem jeweils anderen Kontinent war man durch die für die kunstphotographische Bewegung typische, sehr rege Publikations- und Ausstellungstätigkeit gut informiert; 1904, dem Jahr der Aufnahme der Strandszene, hatte Kühn den wichtigsten Vertreter und Mentor des amerikanischen Piktorialismus, Alfred Stieglitz, persönlich kennengelernt. Weist das im Rahmen dieser Begegnung entstandene Portrait des Kollegen [Lot 205] im Vergleich zu den früheren Gummidrucken ein deutlich kleineres Format auf, so orientierte sich Kühn auch hier am Vorbild der Amerikaner, die bevorzugt mit kleinformatigen Platindrucken arbeiteten. Im Zentrum des Interesses stand nun nicht mehr das „Dekorative“ einer großformatigen Komposition, sondern eine subtilere Nuancierung und Erweiterung der Tonwertskala.

Da ihn die Bildergebnisse des Platindruckes ästhetisch nicht gänzlich zufriedenstellten, d.h. bei aller Subtilität letztlich seiner Vorstellung einer korrekten Tonwertwiedergabe nicht gerecht zu werden vermochten, experimentierte Kühn in den Jahren nach seiner Begegnung mit Stieglitz intensiv mit der Kombination unterschiedlicher Drucktechniken. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist der 1908 entstandene Platingummidruck Miss Mary [Lot 216]. Die Aufnahme ist Teil einer umfangreichen Serie, die Mary Warner, Lebensgefährtin Kühns und sein „geduldigstes Modell“,⁹ in jeweils leicht unterschiedlichen Körperhaltungen in einem Innenraum stehend zeigt. Gekleidet in ein weißes Kleid im Biedermeierstil, hat Kühn sie in einer leichten Drehbewegung aufgenommen. Die Unschärfe und der eng gewählte Bildausschnitt, in dem das Motiv oben und unten leicht angeschnitten erscheint, erwecken den Eindruck des Flüchtigen, Momenthaften und erinnern wiederum an Vorbilder aus der Malerei, etwa impressionistische Figurenstudien französischer Provenienz. Ebenso wie die Aufnahme der Holländerinnen in der Düne besticht jedoch auch diese Aufnahme vor allem durch die bemerkenswerte Feinheit der Tonabstufungen, und in der Tat verweist der der Serie übergeordnete Titel Tonwertstudie darauf, dass in diesen das eigentliche Bildinteresse des Photographen lag. Der sanfte Glanz auf der Haut der Dargestellten, die Transparenz ihres leichten, mehrlagigen Kleides, das Schillern des feinen Organza, die hellen Lichtreflexe auf dem Möbel hinter ihr sowie die feine Durchzeichnung des Hintergrundes auch in den dunklen Partien – dies alles bezeugt die außerordentliche handwerkliche Könnerschaft und Finesse, mit der Kühn seine Bildideen umzusetzen wusste. Kombinierte er in diesem Fall den Gummi- mit der Technik des Platindruckes, so deswegen, weil ihm letzterer allein zu „flau“ erschienen wäre.¹⁰ „[…] wie der Maler über das hellste weiße Pigment nicht hinaus kann, so liegt für uns die Grenze nach oben, nach der höchsten Helligkeit hin, im Papierweiß. Dieses Papierweiß besonders hell erscheinen zu lassen, ist nur dadurch möglich, dass wir Kontraste, tiefe Dunkelheiten, im Bilde anbringen.“¹¹ Der gewünschte Kontrast verdankt sich in diesem Fall dem dunklen Pigment des Gummidruckes, mit dem Kühn die erste Ausführung in Platin überarbeitete. Auf diese Weise gelang es ihm, sich von den im Negativ angelegten Hell- und Dunkelwerten unabhängig zu machen, diese nach Wunsch zu verstärken, Akzente zu setzen und so die „beabsichtigte Bildstimmung“ zu erreichen.

Stellte für Kühn die „Bewältigung großer Tonkontraste […] das praktisch hochwichtige Problem“¹² der photographischen Arbeit dar, so standen hier wie im Zusammenhang mit der Unschärfe ebenfalls naturwissenschaftliche Untersuchungen für seine Überlegungen Pate.¹³ In seiner „Technik der Lichtbildnerei“ verweist er auf die Ergebnisse des Berliner Photochemikers Hermann Wilhelm Vogel, nach denen die Photographie zwar Hell-Dunkel-Werte aus optisch-technischer Perspektive „objektiv“ richtig wiedergebe, dies aber keineswegs der menschlichen Wahrnehmung entspreche, da sich unser Auge im Gegensatz zum Objektiv der Kamera jeweils spontan den Lichtverhältnissen anpassen könne. Hält Kühn an dieser Stelle abschließend fest, dass „die Photographie nicht fähig [sei], helle und dunkle Töne gleichzeitig und auf einmal in den Werten wiederzugeben, wie wir sie sehen“¹⁴, so zielen seine verfeinerten Techniken bei der Erstellung des photographischen Positivs darauf ab, diesen im Negativ angelegten „Fehler“ zu korrigieren, d.h. die vom menschlichen Auge wahrgenommenen Nuancen korrekt in seine Bilder zu übersetzen. Unermüdlich, ja akribisch, arbeitete er an einer Erweiterung der photographischen Tonwertpalette, bei der die „bildmäßige“ Akzentuierung „stimmungswichtiger Haupttöne“ und „Unterdrückung stimmungsschädlicher Töne“ eine ebenso große Rolle spielten wie die „feine Tonigkeit“ und die „subtilen Übergänge“, in denen er die „besonderen Werte der photographischen Darstellungsweise“ sah.¹⁵ 

Ab Mitte der zwanziger Jahre war Heinrich Kühn dazu übergegangen, auf ältere Negative zurückzugreifen, d.h. sich früher photographierter Motive noch einmal anzunehmen, um weiter an ihrer verfeinerten Wiedergabe im Positivdruck zu arbeiten.¹⁶ Die Tonwertstudie III [Lot 215], eine Variante der Miss Mary, sowie weitere, von Kühn eigenhändig auf 1942 bzw. 1943 datierte Abzüge in der hier zum Aufruf kommenden Sammlung belegen, dass er diese Praxis bis zu seinem Lebensende beibehielt. Angetrieben von dem Ehrgeiz, Abzüge größtmöglicher Perfektion und Tonwertgenauigkeit anzufertigen, realisierte Kühn diese sämtlich in der Technik des mehrfachen Ölumdrucks. Dieser gehörte bereits ab etwa 1915 deswegen zu seinen bevorzugten photographischen Verfahren, da er seiner Ansicht nach die „größte Freiheit der Bildgestaltung“ gewährte.¹⁷ I Insbesondere sein 1920 aufgenommener, 1942 realisierter Rückenakt [Lot 247] zeigt, dass diese späten Blätter den zeitnah zum Negativ entstandenen Abzügen der frühen Jahre an Qualität und Raffinesse in nichts nachstehen. Das überaus delikate, in seinen feinen Verläufen wohl kaum zu übertreffende Spiel aus Licht und Schatten auf dem Rücken der Dargestellten, die Wiedergabe der zarten Reflexe auf einzelnen Strähnen ihres geflochtenen Haars wie auch die sorgfältig gesetzten Kontraste zwischen ihrem hellen Gewand und dem dunklen Hintergrund bezeugen vielmehr die über Jahre verfeinerte Könnerschaft Kühns. Rühmte dieser das photographische Medium ob seiner Fähigkeit, „die delikatesten Feinheiten des Lichtspiels mit fast unübertrefflicher Vornehmheit und überzeugender Wahrheit zu schildern“, so illustriert der Rückenakt dies auf besonders eindrückliche Weise.¹⁸

Trailblazer of the "Neuen Sehens" (New Seeing)

Vor allem in jüngeren Veröffentlichungen zu Heinrich Kühn wurde wiederholt und dezidiert auf das modernistische Potential einiger seiner Werke eingegangen.¹⁹ ieser Aspekt wurde in der Rezeption seines Oeuvres lange Zeit wohl auch deshalb nicht gewürdigt, weil Kühns Festhalten an traditionellen Sujets, vor allem aber die malerisch anmutende Weichzeichner-Optik seiner Photographien eine solche Wahrnehmung überlagerten. In einer Arbeit wie dem Stillleben Weinflasche, Wasserglas und Apfel von 1911 [Lot 223], das nach klassischen, der Malerei entlehnten Kompositionsprinzipen aufgebaut ist und auf die Wirkung der „wundervollen Reflexe“²⁰ des Wasserglases setzt, steht Kühn tatsächlich „ganz in der Tradition der auf Virtuosität bedachten Stilllebenmalerei Alter Meister.“²¹ In dem im selben Jahr entstandenen Stillleben Weinflasche, Wasser - glas [Lot 224] hingegen löst sich der Bildgegenstand fast vollständig in eben diesen Reflexen auf, gerinnt die Komposition – vornehmlich in der rechten Bildhälfte – zu einem sorgfältig austarierten, nahezu abstrakt anmutenden Nebeneinander aus hellen und dunklen Flächen.

Monika Faber verweist darauf, dass Heinrich Kühn ab etwa 1912 zu einem photographischen Aufnahmestil gelangte, der einen Vorgriff auf das „Neue Sehen“ der Zwanziger Jahre bedeutet.²² Anklänge an die von den Avantgardephotographen präferierten Gestaltungsmodi finden sich, wie die Motive Der Malschirm I [Lot 213] und Der Malschirm II [Lot 214] zeigen, jedoch auch schon in einigen Bildern früheren Datums. Zwar mag das Sujet der nackten, am Strand spielenden Kinder ein klassisches sein, das „im Bilderkanon der Zeit als Arkadien fest verankert war“.²³ Die starke Aufsicht und Ausschnitthaftigkeit, die kräftigen Hell-Dunkel-Kontraste und die perspektivisch bedingte, photographische ‚Übersetzung‘ des Sonnenschirms in eine abstrakt lesbare Form – all dies zeugt hingegen bereits von einem modernen, sich vom Motiv lösenden Sehen, wie es sich dann etwa anderthalb Jahrzehnte später in den Werken der „Neuen Photographen“ durchsetzen sollte. In Kühns um 1912 datierte Aufnahme Wanderer auf der Wiese [Lot 228] wird der hohe Abstraktionsgrad bereits zum bildbestimmenden Element: Die dunkle, diagonal durch die Darstellung verlaufende Schattengrenze teilt das Bild in zwei nahezu monochrome Flächen, vor denen die Kopfbedeckungen der Wanderer als darüber schwebende, ovale Formen lesbar werden.

Waren die Aufnahmemodi der photographischen Avantgarde der Weimarer Republik, d.h. die fragmentierten Sichten und extremen Perspektiven durch die veränderten Lebensbedingungen in einer immer stärker technisierten und urbanisierten Umwelt bedingt, so dürften derlei Aspekte für den in der Abgeschiedenheit der Tiroler Bergwelt lebenden Kühn nicht relevant gewesen sein.

Der passionierte Bergsteiger wurde vielmehr durch die spektakulären Ausblicke in die Gebirgslandschaft zu seinen Experimenten mit neuen Perspektiven angeregt.²⁴ Dem modernen, großstädtischen Leben vermochte er nichts abzugewinnen, und entsprechend finden sich kaum Bilder dieser Thematik in seinem Werk. Monika Faber äußert die Vermutung, dass Kühn von den wenigen, im Nachlass befindlichen Negativen mit Stadtansichten entweder niemals Abzüge erstellte oder aber diese später vernichtete.²⁵ Entsprechend hoch ist der Seltenheitswert der hier zum Aufruf kommenden, vermutlich in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende entstandenen Ansicht des winterlichen Innsbruck [Lot 203]. Als Vorbilder könnten Alfred Stieglitz` Ansichten des verschneiten New York gedient haben, die dieser 1903 und 1905 in der Zeitschrift „Camera Work“ publizierte.²⁶ 

The later years

Mit seiner Konzentration auf wenige, klassische Sujets entsprach Heinrich Kühn dem in der Kunstphotographie im Allgemeinen begrenzten, aus der Malerei übernommenen Motivrepertoire. Bereits im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende spielte für ihn die Motivwahl eine immer untergeordnetere Rolle, stattdessen waren es die „bildmäßige“, harmonische Komposition, vor allem aber die vollkommene Beherrschung und der Nuancenreichtum der Tonwerte seiner Photographien, denen er seine ganze Aufmerksamkeit widmete. Ab etwa 1925 griff er wie bereits beschrieben auf ältere Negative zurück, darüber hinaus entstanden in den zwanziger und dreißiger Jahren vor allem zahlreiche Stillleben, darunter einfach gehaltene Arrangements mit Blumen aus dem eigenen Garten [Lots 250,251], sowie Aufnahmen bäuerlicher Szenen und Portraitstudien [Lots 248/249, 255-258]. Wurden von Heinrich Kühn in diesen späten Schaffensjahren auch seine beiden Schäferhunde Poidl und Liddy als bildwürdig erkannt, so offenbart sich gerade in einer Aufnahme wie der des im Sessel dösenden Haustieres [Lot 252], dass dem Photographen das Motiv hier letztlich nur als Vorwand diente, um sich seinem beständigen Hauptthema, der photographischen Bewältigung starker Hell-Dunkel-Kontraste zu widmen. Es ist das rein Photographische, das die Essenz eines solchen Bildes ausmacht.

In dieser Fokussierung auf die bis zur Perfektion auszulotenden, dem Material innewohnenden Möglichkeiten des Mediums, dem beharrlichen Bemühen um die richtige Tonwertwiedergabe seiner monochromen Bilder, liegt der große Verdienst des Photographen Heinrich Kühn. Bestand er darauf, dass die Photographie sich ganz auf ihre zwar beim Belichtungsprozess manuell beeinflussbaren, dabei aber eigenen, medienspezifischen Mittel zu beschränken habe, so lieferte er damit einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Anerkennung als künstlerischem Ausdrucksmittel, das nun nicht länger als mechanisches Abbild einer rein äußerlichen Wirklichkeit betrachtet wurde.

¹ Heinrich Kühn, Technik der Lichtbildnerei, Halle/Saale 1921, S. 12.

² Nicht vertreten in der hier zur Versteigerung kommenden Sammlung ist Kühns farbphotographisches Oeuvre, d.h. seine allerdings nur in vergleichsweise geringer Anzahl entstandenen, mehrfarbigen Gummidrucke, sowie die ebenfalls farbigen Autochrome, die allerdings innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraums, von etwa 1907 bis 1913 in größerer Anzahl realisiert wurden.

³ Heinrich Kühn, a.a.O., S. 118.

⁴ Ebenda, S. 89.

⁵ Vgl. Enno Kaufhold, Heinrich Kühn und die Kunstfotografie um 1900, Berlin 1988, S. 22ff.; Monika Faber, Die Kunst der Tonwerte oder: Die vollkommene Kontrolle über das fotografische Material, in: Monika Faber/Astrid Mahler (Hg.), Heinrich Kühn. Die vollkommene Fotografie, Ausst.kat. Albertina, Wien u.a., Ostfildern 2010, S. 53f.

⁶  Vgl. Ute Eskildsen (Hg.), Heinrich Kühn. 1866-1944. 110 Bilder aus der Fotografischen Sammlung, Ausst.kat. Museum Folkwang Essen, Essen 1978, S. 10ff.; Monika Faber, a.a.O., S. 40f.

⁷ Heinrich Kühn, „Gundsätzliches über den Weichzeichner“, in Photographische Korrespondenz, 1928, S. 282, hier zitiert nach Ute Eskildsen, a.a.O., S. 11.

⁸ Vgl. Monika Faber, a.a.O., S. 137.

⁹ Heinrich Kühn, zitiert nach Monika Faber, a.a.O., S. 22.

¹⁰ Gespräch mit Andreas Gruber am 6. Oktober 2017.

¹¹ Heinrich Kühn, a.a.O., S. 387.

¹² Ebenda, S. 384.

¹³ Vgl. Monika Faber, a.a.O., S. 22f.

¹⁴ Heinrich Kühn, a.a.O., S. 390.

¹⁵ Ebenda, S. 388f. 

¹⁶ Vgl. Astrid Mahler, Heinrich Kühn – Leben und Werk, in: Monika Faber/ Astrid Mahler, a.a.O.,S. 245. 

¹⁷ Heinrich Kühn, a.a.O., S. 325.

¹⁸ Ebenda, S. 17f.

¹⁹ Vgl. Monika Faber, a.a.O., S. 7 und 31 sowie Astrid Mahler, a.a.O., S. 245.

²⁰ Heinrich Kühn, a.a.O., S. 403. 

²¹ Monika Faber, a.a.O., S. 204.

²² Ebenda, S. 7.

²³ Ebenda, S. 76.

²⁴ Ebenda, S. 67f.

²⁵ Vgl. Monika Faber, Parallels and Divergences. Heinrich Kuehn, International Art Photography, and Alfred Stieglitz, in: Monika Faber (Hg.), Heinrich Kuehn and his American circle. Alfred Stieglitz and Edward Steichen, München u.a. 2012, S. 56.

²⁶ So etwa die Aufnahme The Street – Design for a Poster, 1903, ver- öffentlicht in „Camera Work“, Heft 3, 1903 oder seine bekannteste Aufnahme des Sujets, Winter – Fifth Avenue, 1892, publiziert in Heft 12 der „Camera Work“, 1905.