Annelise Kretschmer

Annelise Kretschmer wurde am 11. Februar 1903 als Annelise Silberbach in Dortmund geboren. Die Tochter des jüdischen Geschäftsmanns Julius Silberbach studierte von 1920 bis 1922 an der Münchener Kunstgewerbeschule Buchbinderei und Zeichnen und absolvierte im Anschluss ein Volontariat bei dem Schweizer Fotografen Leon von Kaenel (1875–1936) in Essen. 1924 ging sie nach Dresden und wurde Meisterschülerin bei dem Porträtisten Franz Fiedler (1885–1956), der ein Schüler des Theaterfotografen Hugo Erfurth (1874–1948) gewesen war. 1928 besuchte sie für mehrere Wochen Paris. Im selben Jahr heiratete Annelise Silberbach den Bildhauer Sigmund Kretschmer und zog mit ihm 1929 zurück nach Dortmund, wo sie im selben Jahr als eine der ersten Frauen in der Weimarer Republik ihr eigenes Atelier eröffnete. Im Mittelpunkt ihres Schaffens stand die Porträtfotografie, ihre Modelle waren häufig Kinder, aber auch Künstler, Geschäftsleute, Bauern und Arbeiter. Sie veröffentlichte ihre Bilder in der Zeitschrift Das Atelier und nahm an der berühmten Wanderausstellung Film und Foto des Deutschen Werkbundes teil, auch auf der internationalen Fotoschau Das Lichtbild in München im Folgejahr waren ihre von Kritik und Publikum gefeierten Arbeiten zu sehen.

Annelise Kretschmer entwickelte eine rege Ausstellungstätigkeit, die sich bis in die 1970er Jahre fortsetzte. Obwohl es in den dunklen Jahren des NS-Regimes zu Anfeindungen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft kam, konnte sie 1936 ihre Meisterprüfung ablegen und unter einigen Beschwernissen weiter ihrer Arbeit nachgehen. Der Glanz der überaus erfolgreichen Weimarer Jahre verdunkelte sich aber zusehends, und Annelise Kretschmer war auf die finanzielle Unterstützung ihrer wohlhabenden Eltern und Freunden angewiesen. Die letzten Kriegsjahre verbrachte die Familie Kretschmer nahe Freiburg im Breisgau, das Dortmunder Studio der Fotopionierin fiel 1944 einem Bombenangriff zum Opfer. 1950 eröffnete Annelise Kretschmer ihr zerstörtes Atelier neu und begann wieder als Porträtfotografin zu arbeiten; ihr Mann Sigmund Kretschmer starb 1953. Gemeinsam mit ihrer 1940 geborenen Tochter Christiane Kretschmer baute sich Annelise Kretschmer eine zweite erfolgreiche Existenz als Porträtistin auf, zu ihren Kunden zählten Industriellenfamilien, aber auch Künstler wie Eliza Illiard, Ewald Mataré, Gerhard von Graevenitz und ihr Fotografenkollege Albert Renger-Patzsch, außerdem entstanden Porträts für die Wochenschau und eine Vielzahl an privaten Aufnahmen.

Annelise Kretschmer folgte als Fotografin den Grundsätzen ihres Lehrers Franz Fiedler, der die Atelierfotografie von den engen Grenzen der traditionellen Porträtfotografie lösen wollte. Die Künstlerin selbst sah die größte Herausforderung ihrer Arbeit, das Wesen und die Charakterzüge der Porträtierten auf einem einzigen Bild sichtbar zu machen. Für dieses Ziel verzichtete Annelise Kretschmer bewusst darauf, ihren Modellen Vorgaben in Bezug auf Kleidung und Haltung zu machen, sie setzte keine Requisiten ein und verzichtete auf jede Inszenierung. Authentizität stand im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Arbeit. Ihre fotografische Arbeit war vor allem von der Neuen Sachlichkeit geprägt, während ihrer wiederholten Besuche in Paris entstanden auch zahlreiche expressionistische Bilder mit ungewöhnlichen Motiven.

 

Annelise Kretschmer starb am 13. August 1987 in ihrer Geburts- und Heimatstadt Dortmund. Ihr umfangreicher fotografischer Nachlass wurde 2020 vom LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster erworben, das die Künstlerin 2022 mit einer umfangreichen Retrospektive würdigte.