Ernst Barlach - Russische Bettlerin II - image-1

Lot 75 Dα

Ernst Barlach - Russische Bettlerin II

Auktion 1177 - Übersicht Köln
17.06.2021, 18:00 - Moderne/Zeitgenössische Kunst - Evening Sale
Schätzpreis: 20.000 € - 30.000 €
Ergebnis: 42.500 € (inkl. Aufgeld)

Ernst Barlach

Russische Bettlerin II
Um 1932

Bronze Höhe 23,2 cm Rückseitig links an der unteren Kante signiert 'E.Barlach' sowie mit dem Gießerstempel "H. NOACK BERLIN". Einer von 27 nicht nummerierten, seit 1938 entstandenen Güssen aus einer Gesamtauflage von 31 nicht nummerierten Exemplaren. - Mit schöner dunkelbrauner Patina, teils etwas aufgehellt. - In guter Erhaltung.

Die fünf Bronzeplastiken von Ernst Barlach, die wir in dieser Auktionssaison anbieten dürfen, geben einen Eindruck von der künstlerischen Entwicklung, die sich in seinem plastischen Oeuvre abzeichnet. Die „Russische Bettlerin mit Schale", 1906 entstanden, und die „Russische Bettlerin II", die, obwohl in dieser Größe erst 1932 realisiert, in ihrer Gestaltung der kleinen Fassung von 1907 folgt, verdeutlichen die motivischen und künstlerischen Impulse, die Barlach aus seiner mehrwöchigen Russland-Reise im Jahr 1906 zog. Nach seinen vom Jugendstil beeinflussten Anfängen findet der Künstler nun zu vereinfachten, in sich geschlossenen Formen. Die den Körper verhüllenden langen Gewänder der russischen Landbevölkerung setzt er leicht stilisiert in fließende, ornamentale Linien um. Überwiegen bei der früher entstandenen „Bettlerin mit Schale" noch die darstellerischen Details und der erzählerische Aspekt, so überführt er die Gestalt der vornüber gebeugten zweiten „Bettlerin" bereits in eine stark abstrahierte Form, die den menschlichen Körper unter den Stoffbahnen lediglich erahnen lässt.
Das Gewand bleibt auch in Barlachs später entstandenen Plastiken ein bestimmendes Element, er baut die Figur über die Gewandform auf. Sie bildet eine vereinheitlichende Hülle für den Körper und sorgt durch diese Formreduktion für eine Konzentration auf die Gestik und Haltung; auch emotionale Bewegtheit kann dadurch veranschaulicht werden.
Barlachs Hauptwerk ab 1910 wird stark von den gotischen Bildwerken in den Kirchen seiner norddeutschen Heimat beeinflusst. Die dort gesehenen formalen Grundsätze übersetzt er in seine eigene expressive Sprache. Dabei bedient er sich konkreter Kompositionen der sakralen mittelalterlichen Werke, ohne notwendigerweise deren ikonografischen Gehalt zu übernehmen. Es entstehen Plastiken von zeitloser Ausdruckskraft, die die Grundaussagen menschlicher Existenz veranschaulichen.
Die gelängten, statuarischen Gestalten von Christus und Thomas im „Wiedersehen" von 1926 sind durch ihre körperlich distanzierte, aber dennoch innige Umarmung zu einer Einheit verschränkt; die stark differierende Körperhaltung der beiden gibt eine beredte Aussage über die Umstände ihrer Begegnung. Blockhaft und erdschwer stellt sich der „Zweifler" von 1930 dar, das Gewand fasst den knienden Körper zu einer Einheit zusammen, die innere Zerrissenheit offenbart sich durch die Neigung des Kopfes und die gerungenen Hände. Die Figur des „Buchlesers" von 1936 - auch „Lesender Mann im Wind" betitelt - zeigt ebenfalls eine in sich geschlossene Einheit, Haltung und Blick sind ganz auf die Lektüre ausgerichtet. Die etwas gebauschten Gewandschöße und das zerzauste Haar können als Auswirkungen des Windes, aber auch als subtile Zeichen innerer Unruhe gelesen werden.

Werkverzeichnis

Laur 517; Schult I, 71

Zertifikat

Mit einer Expertise von Hans Barlach, Ratzeburg, vom 13. Juni 1990 (in Kopie)

Literaturhinweise

Ernst Barlach, Werke und Werkentwürfe aus fünf Jahrzehnten, Veröffentlichung der Akademie der Künste der DDR in Zusammenarbeit mit den Staatlichen Museen zu Berlin, bearb. von Elmar Jansen, Bd. 3, Berlin 1981, Nr. 16; Anita Beloubek-Hammer, Ernst Barlach, Plastische Meisterwerke, Leipzig 1996, S. 26f.; Eva Caspers, Ernst Barlach Haus, München 2001, Nr. 34f.

Ausstellung

Bremen 1959 (Kunsthalle), Ernst Barlach, Kat. Nr. 496; Rostock 1998 (Kunsthalle), Ernst Barlach, Artist of the North, S. 84; Hamburg 2001 (Kunsthalle), Private Schätze. Über das private Sammeln von Kunst in Hamburg bis 1933, S. 169; Flensburg/Ribe 2002 (Museumsberg Flensburg/Ribe Kunstmuseum), Ernst Barlachs Wege und Wandlungen, Vom Jugendstil zum Expressionismus, Nr. 14; Hamburg 2002 (Ernst Barlach Gesellschaft), Barlach und Russland, Ernst Barlachs Russlandreise im Sommer 1906, S. 347