Kurt Schwitters - Dancer/Tänzer - image-1

Lot 271 D

Kurt Schwitters - Dancer/Tänzer

Auktion 979 - Übersicht Köln
31.05.2011, 00:00 - Moderne Kunst
Schätzpreis: 200.000 € - 250.000 €
Ergebnis: 605.000 € (inkl. Aufgeld)

Gipsplastik und Knochen (?), farbig gefaßt, auf dünner Holzplatte montiert. 78 x 20 x 15 cm. Auf dem mitgegossenen Sockel hinten links mit roter Farbe monogrammiert und datiert KS 43. - Unter der Holzplatte mit dem gedruckten Papieretikett der "Kunsthalle Basel, Nr. 003559" versehen.

Orchard/Schulz 3050

1937 hatte Kurt Schwitters zusammen mit seinem Sohn Ernst Deutschland verlassen und war in Norwegen ansässig geworden, um von dort bei der Invasion deutscher Truppen nach England zu emigrieren.
In Norwegen verfaßt der Künstler Ende der 1930er Jahre retrospektiv eine "Gebrauchsanleitung" im Umgang mit seiner Kunst, die uns bei der Betrachtung der wenige Jahre darauf entstandenen Plastik "Dancer" auch heutzutage noch gute Dienste erweisen kann. In seinen einleitenden Worten betont Schwitters die generell unbedingte Nützlichkeit von Gebrauchsanweisungen:
"Wie würden Sie, lieber Leser, unser Zeitalter charakterisieren? - Als das der Erforschung des Weltalls? Als das des Atoms? Als das der Automation? Oder nur ganz schlicht als das der Kunststoffe? - Vorbeigeraten! Denn alle diese Definitionen geben nur einen Teil des Ganzen, spezialisieren sich sozusagen. Nein, wir leben im Zeitalter der Gebrauchsanweisung! Etwa nicht?! - Können Sie sich zum Beispiel ein Radio kaufen, einen Wagen, eine Waschmaschine, eine Schreibmaschine oder einen Photoapparat, und gleich damit etwas anfangen, ohne erst die Gebrauchsanweisung gründlich studiert zu haben? Oder können Sie vielleicht Ihre Steuererklärung ausfüllen, Oder sogar die moderne Kunst von heute verstehen, ohne Gebrauchsanweisung? - Na, sehen Sie! [...] Als daher der junge und vielversprechende Künstler Kurt Schwitters [...] seine guten Mitbürger der noch etwas unruhigen Nachkriegszeit nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen sogenannten 'MERZ-Produkten' entsetzte, mit 'Bildern', die ganz offensichtlich aus allen nur erdenklichen Abfällen zusammengestellt waren, und mit 'Dichtungen', die aus Zeitungsinseraten, aus dem Zusammenhang gerissenen Aussprüchen und anderem Unsinn bestanden, ja da waren die Gutmütigsten unter Ihnen gerade noch bereit, diese Manifestationen als einen vorübergehenden Anfall von akuter Geistesgestörtheit zu betrachten. Die Rabiateren griffen dagegen zu Handwaffen! Keiner bemühte sich darum, die Gebrauchsanleitung zu lesen [...]." So verweist Schwitters auf eine bereits 1920 im "Ararat" publizierte von ihm als Gebrauchsanweiseung deklarierte Programmschrift.
"Kunst ist ein Urbegriff, erhaben wie die Gottheit, unerklärlich wie das Leben, undefinierbar und zwecklos. Das Kunstwerk entsteht durch künstlerisches Abwerten seiner Elemente. Ich weiß nur, wie ich es mache, ich kenne nur mein Material, von dem ich nehme, ich weiß nicht, zu welchem Zwecke. Das Material ist so unwesentlich wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen. Weil das Material unwesentlich ist, nehme ich jedes beliebige Material, wenn es das Bild verlangt. Indem ich verschiedenartige Materialien gegeneinander abstimme, habe ich gegenüber der nur-Ölmalerei ein Plus, da ich außer Farbe gegen Farbe, Linie gegen Linie, Form gegen Form usw. noch Material gegen Material, etwa Holz gegen Sackleinen werte. Ich nenne diese Weltanschauung, aus der diese Art Kunstgestaltung wurde 'Merz'. [...] Merz will Befeiung von jeder Fessel, um künstlerisch formen zu können. Freiheit ist nicht Zügellosigkeit, sondern das Resultat strenger künstlerischer Zucht. [...] Ich habe mich auch zunächst noch mit anderen Kunstarten beschäftigt, z.B. der Dichtkunst. Elemente der Dichtkunst sind Buchstaben, Silben, Worte, Sätze. Durch Werten der Elemente gegeneinander entsteht die Poesie. Der Sinn ist nur wesentlich, wenn er auch als Faktor gewertet wird. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich Unsinn." (zit. nach Ernst Schwitters, Januar 1965/revidiert 16.8.1981, in: Ausst. Kat. Kurt Schwitters in Exile: The late works 1937-1948, London 1981 (Marlborough Fine Art), S. 31 f.)
Schwitters hatte zwei seiner Hauptwerke, die Merz-Bauten - als Gesamtkunstwerk konzipierte begehbare Raumplastiken - erst in Hannover und später in Lysaker/Norwegen zurücklassen müssen. Sie fielen in Hannover dem Krieg und in Lysaker Kindern, die mit Streichhölzern spielten, zum Opfer; Hannover konnte anhand von Photographien teilrekonstruiert werden. Werner Schmalenbach deutet in diesem Zusammenhang auf die Bedeutsamkeit der späten Plastik von Kurt Schwitters hin auch mit dem Hinweis darauf, daß es im Zuge ihrer Verarbeitung in den Merz-Bauten zuvor kaum eigenständige einzelne Plastiken entstanden.
"Ich mache jetzt viele Knochenplastiken. Ich kaufe einen Knochen, lasse von einem Hund abnagen, was er für nagenswert hält, und baue den Rest nach den Regeln der Bewegung in der Kunst mit Gips wieder auf. Das ergibt keine Knochen, sondern Skulpturen," berichtet Schwitters noch 1946 seinem Freund Spengemann (zit. nach: Werner Schmalenbach, Kurt Schwitters, München 1981, S. 176).
So ist möglicherweise auch der bei der Gipsplastik "Dancer" verwandte Träger aus Knochenmaterial. John Elderfield hingegen vermutet eine Baumwurzel (Elderfield 1987, op.cit., S. 240). In der vertrauten Arbeitsweise ist so ein 'objet trouvé' weiterverarbeitet, und auch Plastik und Malerei sind miteinander verbunden - Elderfield gibt zu bedenken, daß Schwitters viele seiner Gipse eigentlich nur bemalte, damit sie nicht ausschließlich der "natürlichen Welt angehörten" (ebenda, S. 241). Hellgrau-beigefarben gefaßt ist der wurzelartig spitz nach oben zulaufende Körper mit einem Standbein in einem trapezförmigen, auf seiner Oberseite grünlichen Sockel verankert; ein zweites Bein schwingt erhobenen Fusses weit aus in derselben Richtung wie vier kurze auf 'Armhöhe' befindliche Tentakel. Die farbige Fassung von Spitze und Füßen in leuchtendem Rot nebst den giftig-gelben abgerundeten Enden der Armausstülpungen unterstreichen neben der plastischen Form noch den weit eröffneten Assoziationsspielraum und regen zu empathisch höchst widersprüchlichen Empfindungen zwischen Entzücken und Grauen an - Schwitters' eigene Bipolarität von frohem Witz und bitterstem Ernst ist bekannt. Das muntere Wesen der Tänzer- Figur erschließt sich in der Rundumansicht ihrer gegenläufigen Bewegung wie in dem Drehmoment ihres spiralförmigen Aufbaus. Zum Tanz aufgefordert, erliegt der Betrachter dem Reiz eines Spiels zwischen abstrakter und anthropomorpher Formgebung. Der Gedanke an exzentrische Schlenkerbewegungen des Charleston und Jitterbugs, den Modetänzen der 1920er und 1930er Jahre, liegt nahe. Schwitters selbst tanzte leidenschaftlich gern und seine darin während der Merz-Abende in Hannover zur Schau gestellte Kunst ist legendär. Im Londoner Exil jedoch stieß der in England unbekannte Avantgarde-Künstler auf blankes Unverständnis. So verließen die eigens zu einem von E.L.T. Mesens in der London Gallery organisierten Merz-Abend eingeladenen Herren von der B.B.C. vorzeitig die Veranstaltung, ohne von der Dringlichkeit einer Schallplattenaufnahme der Schwitterschen "Ur-Sonate" überzeugt werden zu können (s. Schmalenbach 1981, op.cit., S. 66).
Entzieht sich die Plastik "Dancer" letztlich und natürlich gewolltermaßen der Sinnsuche, resp. Sinngebung, entsinnt man sich Schwitters' "Gebrauchsanweisung" und an seine darin postulierte Liebe zum "Unsinn". Kunsthistorisch ist die Figur von höchster Bedeutsamkeit, stellt sie doch neben den zerstörten Merzbauten eine der wenigen überhaupt gefertigten Plastiken im Werk des Avantgarde-Multitalents Schwitters dar. Ihresgleichen sind heute fast ausschließlich in musealem Besitz oder exklusiven Privatsammlungen und lassen sich auf dem freien Kunstmarkt nicht mehr finden.

Werkverzeichnis

Orchard/Schulz 3050

Provenienz

The London Gallery, London (1947-1951, in Kommission); E.L.T. Mesens, London (1951-1971); Privatbesitz Brüssel (1971-1973); Galerie Beyeler, Basel (1973); Galerie Gmurzynska, Köln (1978); Gustav Stein, Lohmar-Honrath (bis 1979); Privatbesitz Deutschland (1979, Erbschaft); Galerie Sander, Darmstadt (bis 1988); Privatbesitz Hessen (ab 1988)

Literaturhinweise

Andreas Franzke, Skulpturen und Objekte von Malern des 20. Jahrhunderts, Köln 1982, Abb. 124; John Elderfield, Kurt Schwitters, London 1985, S. 219 mit Abb. 314. bzw. Düsseldorf 1987, S. 240, Abb. 308 (hier "Exhausted Dancer"); Marc Dachy, The 27 senses of Kurt Schwitters or How to become an impredictible violet (and flower in the dark), in: L'Ecrit et l'art II [Symposium Juni 1993], hrsg. von Benjamin Buchloh, Nouveau Musée/Institut d'art contemporain, Villeurbanne (Rhône) 1997, S. 119-156, Abb. S. 143

Ausstellung

London 1944 (The Modern Art Gallery), Paintings and Sculptures by Kurt Schwitters, Kat. Nr. 10 c "Dance" (vermutlich identisch); London 1947 (The London Gallery), Depositum; London 1950 (The London Gallery), An Hommage to Kurt Schwitters and Sculpture by Rolanda Polonsky and Recent Work by the English Painter Stella Snead, Kat. Nr. 33; Knokke-le-Zoute-Albert Plage 1951 (Grande Salle des Exposition de "La Reserve"), 75 Oeuvres du demi-siècle, Kat. Nr. 60; Brüssel/Rotterdam/Berlin/Mailand/Basel/Paris 1971/1972 (Palais des Beaux-Arts/Mus. Boymans van Beuningen/Neue Nationalgalerie/Palazzo Reale/Kunsthalle Basel/Musée des Arts Décoratifs), Metamorphose des Dinges. Kunst und Antikunst 1910-1970, Kat. Nr. 217 bzw. Kat. Nr. 138; Köln 1978 (Galerie Gmurzynska), Kurt Schwitters, Kat. Nr. 83, S. 155 mit Abb.; New York/London/Hannover 1985/1986 (The Museum of Modern Art/Tate Gallery/Sprengel Museum), Kurt Schwitters, Abb. S. 314, bzw. Abb. S. 232; Høvikodden/Norwegen 2009/2010 (Henie Onstad Art Centre), Schwitters in Norway, Kat. Nr. 77 mit ganzseitiger Farbabb.