Wilhelm Leibl - Ein Kritiker - image-1

Lot 2173 Dα

Wilhelm Leibl - Ein Kritiker

Auktion 1231 - Übersicht Köln
18.11.2023, 11:00 - Alte Kunst und 19. Jahrhundert, Teil I
Schätzpreis: 200.000 € - 250.000 €
Ergebnis: 403.200 € (inkl. Aufgeld)

Wilhelm Leibl

Ein Kritiker

Öl auf Holz. 67 x 55 cm.
Signiert und datiert unten links: W. Leibl 1868.

Was erhofft, was erträumt sich ein junger Künstler von seiner ersten Teilnahme an einer großen Ausstellung? Dass ihn die Kritiker in der Masse der Exponate wahrnehmen und in ihren Rezensionen erwähnen; dass ihm die etablierten Künstler mit Wohlwollen, gar mit Anerkennung begegnen; dass ihm die Studienfreunde und Verwandten bescheinigen, nun den Durchbruch geschafft zu haben – all diese Hoffnungen erfüllte dieses Werk, Wilhelm Leibls Gemälde „Ein Kritiker“, als es 1869 bei der „I. Internationalen Kunstausstellung im königlichen Glaspalaste“ in München ausgestellt wurde.
Die Bedeutung dieses Debuts für den 24jährigen Künstler, noch Meisterschüler Pilotys an der Münchener Akademie, kann nicht überschätzt werden. Zur Ausstellung mit knapp 2400 (!) Werken reichte Leibl fünf Werke ein. Im Ausstellungskatalog ist das Gemälde unter Nummer 962 gelistet, lapidar als „Genrebild“ bezeichnet; zusammen mit dem „Bildnis der Mina Gideon“ erregte es die meiste Bewunderung unter Leibls Werken. So konnte der Künstler seinem Bruder, nicht ohne Stolz, kurz nach der Ausstellungseröffnung vermelden: „Von vielen wird behauptet, mein Genrebild [Ein Kritiker] sei unter den Münchenern das Beste u. gleichfalls mein Portrait“ (Röhrl 1996, op. cit., S. 52). In Düsseldorf, wo das Gemälde zuvor bereits gezeigt wurde, war die Resonanz gleichermaßen enthusiastisch ausgefallen. Die dortigen Künstler, so berichtete Leibl später, trugen ihn im Triumph auf den Schultern, Wilhelm von Kaulbach proklamierte ihn zum „Malerkönig“ – „das war mir peinlich“ sollte Leibl später zu Protokoll geben, die Anerkennung durch die Künstlerkollegen wird er jedoch genossen haben.
Das Bild zeigt einen Kritiker und einen Künstler bei der gemeinsamen Betrachtung einer Arbeit. Mit theatralischer Geste hält der Kritiker das Blatt vor sich und betrachtet es mit Bewunderung. Der Künstler sitzt neben diesem auf einem Tisch, beugt sich zu diesem und greift zugleich nach einer anderen Arbeit hinter sich (zu erwähnen ist, dass das Gemälde in der Vergangenheit als „Die Kritiker“ betitelt wurde; vgl. Köln/München 1994, op. cit., S. 20). Als Modelle dienten Leibl die Künstlerfreunde Rudolf Hirth du Frênes und Karl Haider. Durch eine Ölskizze und eine Federzeichnung aus dem Entstehungsjahr des Gemäldes können wir die Genese des Werks nachvollziehen: Die Ölskizze (Belvedere, Wien; Abb. 1) zeigt bereits die wesentlichen Elemente der Figurenkomposition. Mit sicherer Hand platziert Leibl die Figuren im Raum und verteilt die Farb- und Hell-Dunkelwerte auf der Fläche. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Skizze und ausgeführtem Gemälde wird deren Vergleich offensichtlich: Die Szenerie ist vom Atelier in einen Salon verlegt, die zahlreichen Gegenstände eines Künstlerateliers – Vorhang Staffelei, Rahmen, Pinsel, unfertige Leinwände – sind durch ein nahezu monochromes Interieur ersetzt, was zu einer Fokussierung auf die beiden Protagonisten führt. In der Skizze wie im fertigen Gemälde zeigt sich bereits die malerische Brillanz des jungen Leibl, die von Kollegen und Kritikern gleichermaßen wahrgenommen wurde.
Die Bezeichnung des Gemäldes als „Genrebild“, vom jungen Leibl selbst gebraucht (und bis heute zuweilen verwendet), wird der Bedeutung dieses Werks nicht gerecht. Sie offenbart die Probleme der damaligen Kunsttheorie und Kunstkritik in Deutschland, den modernen Realismus von Leibls Kunst richtig einzuordnen. Das Gemälde stellt nicht bloß eine Genreszene dar, es reflektiert Leibls eigene Situation als junger Künstler, der sich anschickt, vor die internationale Kunstöffentlichkeit zu treten und sein Werk der Kritik von Kollegen, Kritikern und Sammlern auszusetzen – ein passendes Bildthema für ein Debutwerk, wie es scheint. Dass Leibl die Bedingungen seines Kunstschaffens beschäftigte, zeigt das im selben Jahr entstandene Gemälde „Im Atelier“ (Liberec, Oblastní Galerie; Abb. 2), das wie ein thematisches Gegenstück zu „Ein Kritiker“ erscheint. Dass „Ein Kritiker“ überhaupt die erste mehrfigurige Komposition Leibls darstellte, macht die malerische Meisterschaft dieses Gemäldes umso erstaunlicher.
Leibls Teilnahme an der Münchener Ausstellung 1869 war auch deshalb so bedeutend, weil sie ihm die Freundschaft – und Bewunderung – Gustave Courbets einbrachte, eine schicksalhafte Begegnung für Leibl. Courbet war mit einer Reihe weiterer französischer Künstler bei der Ausstellung vertreten und zeigte in München unter anderem sein Hauptwerk „Die Steinklopfer“ von 1849 (Abb. 3). Ein Besuch Courbets in der Stadt führte die beiden bei einem abendlichen Gasthausbesuch zusammen. Courbet, der Anführer des Realismus in Frankreich, lud Leibl nach Paris ein, dort sollte er ein Jahr später das „Bildnis der Mina Gedeon“ ausstellen, für das ihm die Goldmedaille zugesprochen wurde. „Ein Kritiker“ nahm Leibl nicht mit nach Paris, vielleicht, weil es sich bereits in einer rheinischen Privatsammlung befand; er hatte es noch im Jahr der Entstehung verkaufen können. Die Nachfahren der ersten Besitzerin wussten um die eminente Bedeutung dieses Werks im Œuvre Leibls, wie ein handgeschriebenes Etikett auf der Rückseite verdeutlicht, und es wurde von Generation zu Generation innerhalb der Familie weitergereicht. So kommt es, dass dieses für Leibls weitere Schaffen so wichtige Werk, etwas mehr als 150 Jahre nach seiner Entstehung, zum allerersten Mal auf dem Kunstmarkt angeboten wird – auch dies ein erstaunliches Debut.


Abb. 1/Ill. 1: Wilhelm Leibl, Ein Kunstkritiker / An Art Critic, 1868 © Belvedere, Wien/Vienna

Abb. 2/Ill 2: Wilhelm Leibl, Im Antelier / In the Studio, 1868/69 © Oblastní galerie Liberec

Abb. 3/Ill. 3: Gustave Courbet, Die Steinklopfer / The Stone Breakers, 1849, ehemals/formerly Dresden, Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen © bpk | Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Kriegsverlust/war loss)

Provenienz

Im Jahr 1868, unmittelbar nach Entstehung vom Künstler erworben, seitdem durch Erbfolge in Rheinischer Privatsammlung.

Literaturhinweise

Ausst.-Kat. München 1869: Katalog zur I. internationalen Kunstausstellung im Königlichen Glaspalaste zu München, S. 40, Nr. 962. – Kunst Chronik IV 1869, S. 94. – Gustav Gronau: Leibl, Bielefeld/Leipzig 1901, S. 9-11, m. Abb. – Ausst.-Kat. München 1901: VIII. Internationale Kunstausstellung im Königlichen Glaspalast München 1901, München 1901, Nr. 172. – Aust.-Kat. Berlin 1906: Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775-1875 in der Königlichen Nationalgalerie Berlin 1906, Bd. 2, München 1906, S. 334-335, Nr. 1021A, m. Abb. – Georg Jacob Wolf: Leibl, Ein Deutscher Maler, München 1919, S. 2. – Georg Jacob Wolf: Leibl und sein Kreis, München 1923, S. 32. – Ausst.-Kat. Berlin/Köln 1929: Wilhelm Leibl, Gemälde – Zeichnungen – Radierungen, Akademie der Künste Berlin/ Wallraf-Richartz-Museum, Köln, 1929, S. 17; S. 42, Nr. 28, Tafel 16. – Emil Waldmann: Wilhelm Leibl, Darstellung seiner Kunst 1930, Nr. 87. – Julius Mayr: Wilhelm Leibl, Sein Leben und sein Schaffen, 4. Aufl., 1935, S. 30, 32ff., 47ff. – Emil Waldmann: Wilhelm Leibl als Zeichner. München 1943, S. 47, Nr. 16 (zur Vorzeichnung). – Ausst.-Kat. Köln 1950: Wilhelm Leibl und Gustave Courbet, Nr. 2, m. Abb. – Alfred Langer: Wilhelm Leibl, Budapest 1969, S. 22, Nr. 8, m. Abb. – Alfred Langer: Wilhelm Leibl, 1977, S. 21. – Eberhard Ruhmer: Der Leibl-Kreis und die Reine Malerei, 1984, S. 53. – Ausst.-Kat. Köln/München 1994: Wilhelm Leibl zum 150. Geburtstag, S. 230f, Nr. 40, m. Abb. – Klaus Jörg Schönmetzler: Wilhelm Leibl und seine Malerfreunde, Rosenheim 1994, S. 6-7, m. Abb. – Boris Röhrl (Hrsg.): Wilhelm Leibl, Briefe mit historisch-kritischem Kommentar, Hildesheim 1996, S. 52.

Ausstellung

I. Internationale Kunstausstellung im Kgl. Glaspalaste München, 1869, Nr. 962. – VIII. Internationale Kunstausstellung im Königlichen Glaspalast München, 1901, Nr. 172. – Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775-1875 in der Königlichen Nationalgalerie Berlin, 1906, Nr. 1021A. – Wilhelm Leibl, Gemälde – Zeichnungen – Radierungen, Akademie der Künste Berlin/ Wallraf-Richartz-Museum, Köln, 1929, Nr. 28. – Wilhelm Leibl und Gustave Courbet, Kölnischer Kunstverein / Wallraf-Richartz-Museum, Köln, 1950, Nr. 2. – Wilhelm Leibl zum 150. Geburtstag, Neue Pinakothek, München / Wallraf- Richartz-Museum, Köln, 1994, Nr. 40.