Arnold Odermatt war der Polizist mit der Kamera: Über 40 Jahre lang erschien der Schweizer Schutzmann und Hobbyfotograf mit seiner Rolleiflex an Unfallorten, um mit sicherem Auge den Sachverhalt zu dokumentieren. Dass dabei große Kunst entstand, entdeckte man erst nach seiner Pensionierung.
(...) WeiterlesenArnold Odermatt – Die Vorgesetzten sahen das Fotografieren nicht gern
Arnold Odermatt wurde am 29. Mai 1925 in Oberdorf im Schweizer Kanton Nidwalden geboren. Ein Kunststudium oder eine ordentliche Fotografenausbildung durchlief er nie; stattdessen ging er zur 1948 zur Nidwaldner Kantonspolizei. Dort erhielt er den Auftrag, Skizzen für Unfallprotokolle zu zeichnen. Weil ihm aber jedes Zeichentalent fehlte, legte Arnold Odermatt Bleistift und Tusche zur Seite und griff zum Fotoapparat. An der Stelle, an der er normalerweise Stift und Block für das Anfertigen einer Übersichtsskizze gezückt hätte, drückte er auf den Auslöser der Kamera. Seinen Vorgesetzten war dieses Vorgehen suspekt: Eine Fotografie galt als fälschungsanfällig und weniger zuverlässig als eine Bleistiftskizze. Erst als ein Richter die fotografische Dokumentation der Unfälle ausdrücklich lobte, setzte ein Umdenken ein: Arnold Odermatt erhielt seine eigene Dunkelkammer im Polizeigebäude; die Fotografie ersetzte ganz offiziell die Skizze. Weil außer Arnold Odermatt kein Nidwaldner Polizist den Umgang mit der Kamera beherrschte, wurde der offizielle Notruf nach Dienstschluss auf seine Privatnummer umgeleitet.
Konsequente Suche nach der passenden Perspektive
Arnold Odermatt hatte in jungen Jahren durchaus eine Neigung zur Kunst gezeigt, allerdings nicht zur bildenden, sondern zur backenden: Er hatte Konditor werden wollen; besonders gern gestaltete er prachtvolle Hochzeitstorten. Eine Mehlstauballergie vereitelte diese Pläne und Odermatt packte kurzerhand seine Koffer, um in den Belgisch-Kongo auszuwandern. Der Vater, ein Kantonsförster, ließ seine Verbindungen spielen und brachte seinen Sohn stattdessen bei der Polizei unter. In Nidwalden gab es nach dem Krieg zwar wenige Autos, aber viele Unfälle, was Arnold Odermatt die Möglichkeit bot, nach Herzenslust mit der Kamera zu experimentieren. Er kletterte auf das Dach eines VW-Busses, den er extra zu diesem Zweck quer auf der Autobahn postiert hatte, klingelte mitten in der Nacht an Nachbarhäusern und weckte die Bewohner, um aus deren hochgelegenen Schlafzimmerfenstern das Unfallgeschehen zu fotografieren oder watete mit hochgezogenen Hosen in einen See, weil er so einen besseren Blick auf das Ufer bekam – nur Letzteres sorgte dabei wirklich für Unmut, schien es doch für einen Schweizer Polizisten nicht statthaft, in der Öffentlichkeit mit nackten Beinen aufzutreten.
Die Entdeckung der Schönheit in der Karambolage
Arnold Odermatt blieb sein Leben lang Polizist, seine Bilder erschienen lediglich in der lokalen Presse oder wurden bei Gerichtsverhandlungen vorgelegt. Erst nach Odermatts Pensionierung stieß sein Sohn, der Schweizer Filmregisseur Urs Odermatt, bei seinen Recherchen für den Spielfilm Wachtmeister Zumbühl auf die fotografische Arbeit seines Vaters, stellte die Bilder zu mehreren Werkgruppen zusammen und sorgte für eine ordentliche Herausgabe. Die unbestreitbare handwerkliche Meisterschaft, das sachlich-nüchterne Auge für Details, das Gespür für die richtige Übersicht und die konsequente Verweigerung aller voyeuristischen Versuchungen faszinierten das Publikum – und den Kurator Harald Szeemann, der Odermatts Bilder 2001 für die Biennale in Venedig auswählte. Seine Bilderserien erschienen in aufwendigen Bildbänden; am bekanntesten wurde Karambolage, eine Zusammenstellung seiner künstlerisch beeindruckendsten Unfallbilder.
Arnold Odermatt starb am 19. Juni 2021 in Stans infolge einer Alzheimererkrankung.
Arnold Odermatt - Werke, die bereits im Kunsthaus Lempertz verkauft wurden: