Lot 110 D

Zahlreiche Motive aus dem Tiergarten finden sich im Oeuvre Max Liebermanns. Das hängt zum einen damit zusammen, daß sein Elternhaus am Pariser Platz neben dem Brandenburger Tor direkt an dieses große innerstädtische Waldareal grenzte und er seit früher Jugend sich im Tiergarten sport- und spaßeshalber aufhielt. Zum anderen mußte Liebermann seine regelmäßigen Arbeitsaufenthalte in Holland nach Ausbruch des I. Weltkrieges einstellen und war wieder auf heimische Bildmotive verwiesen. Neben seinem Garten am Wannsee bot der Tiergarten eine breite Motivfülle hinsichtlich der Besucherscharen und der Vegetation. Vor allem Nannys mit Kinderwagen bilden immer wieder ein beliebtes narratives Element und bereichern wie auch in der vorliegenden Komposition das Bildgeschehen. Bäume, resp. Baumstämme staffeln und rhythmisieren den Bildraum und ermöglichen interessante Lichtsituationen. Obgleich das Licht hier diffus erscheint - der sandige Weg reflektiert und bildet die Hauptlichtquelle innerhalb der Komposition -, sind doch kleinere Spots tief auf einzelne Baumstämme geworfen und evozieren die frühlingshaft zartgrüne Stimmung eines späten Nachmittags. Das Verhältnis von Schärfe und Unschärfe bedarf besonderer Erwähnung bei der vorliegenden Tiergartenstudie, denn aus der Summierung der Unschärfen resultiert die eigentliche Schärfe - ein Phänomen, das der Belebung der Szenerie dient: Die Walddichte ist bildparallel flächig vermalt, während sich die Staffagefiguren plastisch und unscharf formuliert deutlich aus dem Hintergrund hervorheben. Hier zeigt sich die meisterhafte Handhabung des Impressionisten Liebermann.
Matthias Eberle legt - von der modischen Ausstattung der flanierenden Dame im kurzen Kleid und ihrer Tochter, die eine rote Kappe trägt, ausgehend - eine Datierung des Gemäldes auf das Ende der 1920er Jahre nahe und erwägt 1927 als Entstehungsjahr für das Gemälde "Spaziergänger im Tiergarten". 1926 zeichnet Liebermann jedoch schon eine dem Gemälde beinahe detailliert entsprechende Szene innerhalb der Lithographie-Folge zu Theodor Fontanes "Effi Briest", wobei die Paarbildung sich auf die Protagonisten bezieht, mithin ein Herr mit seiner Dame daherspaziert (s. unsere Textabb..; Sigrid Achenbach, Die Druckgraphik Max Liebermanns, Dissertationsdruck Heidelberg 1974, Nrn. 117-137). So ist demzufolge eventuell auch eine etwas frühere Datierung des Gemäldes zu erwägen.